Von Guido Dörheide (24.03.2024)
Ich erinnere mich an 2022, eine meiner ersten Rezensionen hier, „I’m Fine“ von Christin Nichols, und nicht nur die Musik, sondern auch die Texte hauten mich damals um. Kann Nichols Zeilen wie „Ich hab auch kein Sex-Appeal und kein Verkehr, ich hab auch kein Backup gemacht, und die Milch ist schon wieder leer.“ („Sieben Euro Vier“ vom besagten „I’m Fine“-Album) noch irgendwie toppen?
Ja, kann sie, und zwar schon im ersten Stück: „Rock ist kurz, Zeit ist knapp, muss mein Body Count noch checken, ich will leben als ob die AfD was dagegen hätte“ und „ich gender Dich, bis Du weißt, wer bumsen will, muss freundlich sein“ tönt Nichols auf „Body Count“, und ich feiere das. Die Musik ist zu Anfang des Albums wesentlich elektronischer als auf „I’m Fine“, damit werde ich langsamer warm als mit den Lyrics, ist aber mehr als OK. Track 2 ist ein Duett mit Fatoni, und was dieser an Reimen raushaut, finde ich ebenso schräg wie intelligent wie witzig: Er reimt „Großvater“ auf „Hochstapler“, „Ich hab immer Recht“ auf „Richard David Precht“ mit einer Nonchalance, als wäre da apselut nix bei, und das ist es auch nicht, es passt einfach und hat einen tollen Flow.
Mit „Morgen willst Du mich“ wendet sich Christin Nichols dann von der Elektronik ab und dem 80er-Jahre-Indie-Pop zu: Viieel Bass, stimmungsvolle Synths und ein monotoner Gesang mit viel Hall. Und egal, wie viel Hall und wie viel Monotonie: Nichols’ Stimme und ihre Art, zu singen, sind einfach wunderbar. Auf „Direct Flight To Seattle“, gesungen auf Englisch, kommt diese Stimme besonders wunderbar zur Geltung, und hier verschmelzen sich dann Elektronik und dieses 80er-Jahre-Ding zu einer supertollen Symbiose. „Kein Anschluss“ beschäftigt sich mit Social Media und ist textlich nett, aber musikalisch dafür großartig. Dezent jaulende 80er-Indie-Gitarren, Elektrobeat, Rhythmus und Melodie, die einen nicht loslassen, und dazu ein schön lässiger Gesang.
So geht es weiter und weiter, musikalisch und gesanglich leistet sich Christin Nichols wieder einmal mehr keinen einzigen Durchhänger, und die Texte lassen die Hörenden immer wieder aufhorchen. „Keiner kommt hier lebend raus – wer hätte das gedacht? Du ertrinkst im Selbstmitleid, ich hab mich totgelacht“ ist so ein Beispiel.
Von „I’m Fine“ kennen wir Christin Nichols als eine Künstlerin, die passende und unter die Haut gehende Worte findet, wenn es gegen Frauenfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt geht. Auf dem aktuellen Album werden diese Abartigkeiten auch wieder sehr berührend und deutlich aufgegriffen. Auf „In Ordnung“, das auch dadurch eine beklemmende Stimmung erzeugt, dass die Geschichte abwechselnd aus weiblicher (Christin Nichols) und männlicher (Julian Knoth) Perspektive erzählt wird, wobei sich beide am Ende mischen, was den beklemmenden Effekt nur unterstreicht: Zuerst die Frau: „Wenn das hier in Ordnung wäre, dann wär’s nicht, wie es ist. Wenn ich das wirklich sehen sollte, wär hier auch Licht.“ Und dann der Mann: „Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich’s wirklich sehen will. Weil ich dann was tun müsste, also lass das Licht aus. Lass es dunkel. Halt bitte einfach still.“ Und dann beide: „Ich weiß, ich weiß, alles hat seinen Preis. Was soll das denn bedeuten, ich weiß gar nicht, was das heißt. Gar nichts ist in Ordnung, und ich bin der Beweis.“ Es wird dann nicht mehr besser, es geht dann auch noch darum, dass alles „mal in Ordnung war“, und besser und eindringlicher kann man das Thema „Nein heißt nein“ nicht auf den Punkt bringen.
Das Album bleibt dann bis zum Ende sowohl musikalisch als auch textlich auf dem beschriebenen hohen Niveau und macht musikalisch Freude ohne Ende. Und wenn es dann noch alle Naselang textlich zum Nachdenken anregt oder sogar verstört, dann hat Christin Nichols echt mal wieder was gekonnt. Großartig!