Von Guido Dörheide (14.02.2024)
Erst durch HINÜBER (2021) wurde ich aufmerksam auf die Musik von Jasmin Stocker aus Stuttgart, die seit den 2010er Jahren unter dem Namen MINE in Erscheinung tritt. Sie hat Jazzgesang studiert, was man ihren Aufnahmen anhört – sie hat nicht nur eine tolle, immer wiedererkennbare Stimme, sondern weiß auch, wie man sie einsetzt.
Ihr elektronischer, mit vielen Streichern versehener, melancholischer Pop hat mich auf HINÜBER sehr begeistert, und begeistert mich auf dem aktuellen Album immer noch. Auch hier gibt es wieder – neben der Elektronik und dem, wie ich finde, noch besserem Gesang – ganz wunderbare Streicherarrangements zu hören, von MINE selbst arrangiert (das kann sie und hat sie auch auf „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ von Danger Dan schon gemacht).
Das erste, was mir an BAUM auffällt, ist, dass es nicht weniger dunkel klingt als HINÜBER, aber weniger monoton, sowohl von der Musik als auch vom Gesang. An den Texten finde ich sehr gelungen, dass MINE manchmal den Hörenden Dinge als Reim verkauft, die sich eher fressen. „Ich bin so alt, ich bin ein Baum, ich gieß mich selbst, denn ich bin schlau“ gleich auf dem das Album eröffnenden Titelstück ist so ein Beispiel dafür. Und das macht sie andauernd und das klingt wirklich gut. BAUM mit seinem hiphoppigen Beat lässt das Album lebhaft starten, das folgende ICH WEISS ES NICHT, mit schönen Klavierläufen und ebenso schönen Streichern begleitet, nimmt etwas Schmackes raus, was aber nichts macht. „Wenn ich könnte, wüsste ich, was richtig ist, was nicht. Was fällt ins Gewicht? Ich weiß es nicht.“ Das klingt schön und das ist wahr.
Mit der denkwürdigen Zeile „Du hast mich gepusht, das macht mich fatigué“ beginnt NICHTS IST UMSONST, und es klingt gehört nicht mal halb so beknackt wie gelesen. Hier zieht MINE Tempo und Instrumentierungsvielfalt auch wieder ziemlich an, um dann auf NICHTS IST UMSONST (REPRISE) gleich wieder Tempo rauszunehmen und zu einer faszinierenden Synthesizermelodie dem eigentlichen Stück quasi noch einen zusätzlichen Refrain hintenanzustellen.
À propos Reprise btw: Gleich an mehreren Stellen arbeitet MINE mit Reprisen und Intros, was ich auf das Entschiedenste begrüße, denn so etwas macht den Rezipierenden klar, dass sie es hier mit einem Album zu tun haben und nicht mit einer Plünderungsstätte für Playlists.
Und wie ich gerade von Intros und Reprisen schreibe, beginnt dann auch das folgende Stück mit einem der solchen: Das Intro von DANKE GUT wird von einem Männerchor gesungen. Dieser wehklagt über einen Versuch des Wegkommens, der immer wieder scheitert, und liefert damit eine Einstimmung auf das Thema des folgenden Songs. Und dieser ist in meinen Augen der zentrale Song des Albums. Es ist ja immer so, dass die gerade in der Hifi-Anlage amtierende Künstlerin den Hörer dort am besten abholt, wo er selber schon mal gewesen ist, wenn auch hier mir umgedrehter Rollenverteilung. DANKE GUT handelt von fortwährenden Fluchtversuchen aus einer kaputten und hoffnungslosen Beziehung, die MINE in eindrucksvolle Worte fasst („Ich will weg von dir, doch ich komm‘ nicht weit.“ / „Du weißt, wo du mich triffst – Triff mich dort, wo es wehtut“ / „Und ich weiß, dass ich geh’n muss, doch meine Stimme versagt. Ich bin nur noch so klein mit Hut“). Das immer wiederkehrende „Wenn Dich jemand fragt, sag ihr ‚Danke, es geht gut‘“ lässt schon erahnen, dass alles nicht gut enden wird. „Keiner weiß, ich schäme mich vor mir selbst, doch ich gehe nicht. Drehe mich um, drehe mich um dich.“ heißt es im Refrain, und als wäre das nicht schon schlimm genug, wird zwischendurch die Sicht des anderen Teils der Beziehung eingeblendet (gesungen vom Berliner Rapper Mauli), und das ist ganz, ganz finster: „Dein Schrank ist leer, wieder mal. Gepackte Koffer liegen da. Du hast geschwor’n: Nie mеhr, doch wir finden immer wiedеr hierher. Denn jeder Satz trifft dich da, wo es wehtut. Ich hab gewonnen und du bleibst, obwohl ich weiß, dass du geh’n musst.“ Wenn man so etwas schon mal erlebt und dabei „verloren“ hat, wird man hier ziemlich aufgewühlt.
SPIEGEL klingt von der Musik erstmal schön und gegen Ende sogar fröhlich, der Text handelt jedoch von geringem Selbstwertgefühl, dem Nichtwissen, wo man hingehört, und daraus resultierender Zerstörung. Auf SCHATTIG (wieder ein Stück mit einem Intro) wird es nicht besser („‚Was soll ich machen?‘, hast Du gefragt. ‚Ich hab keine Ahnung. Alles im Arsch.‘“) und auch STAUB und STEIN tragen trotz schmissiger Beats und schöner Orgeln nicht gerade zur Fröhlichkeit bei. COPYCAT handelt vom Klauen der Ideen anderer Künstler, FESCH klingt fröhlich-poppig und bietet textlich eine Lobhudelei der Ich-Erzählerin, die so überzogen ist, dass es am Ende wieder deprimierend ist. Dann die Reprise vom BAUM, traurige Streicher, aber dieses Mal wenigstens kein aufs Neue niederschmetternder Text. Den hebt sich MINE für WEITER GERANNT auf („Hab‘ keinen Mut zu gehen, ich wär nur lieber gegang’n, doch ich bin weiter gerannt, obwohl ich nichts mehr daran fand“).
Mein Fazit: Die deutschsprachige Popmusik ist nicht nur nicht totzukriegen, sondern auch noch nicht verloren. BAUM bietet tolle Musik, wunderschönen Gesang, Tiefgang, Düsternis und Aussagen, über die nachzudenken es sich lohnt.