Von Matthias Bosenick (10.12.2023)
Na klar, Depeche Mode, Yazoo, Erasure, das kennt man, VCMG sicherlich auch noch, The Clarke & Ware Experiment oder The Assembly schon nicht mehr so genau, die ganzen anderen Projekte auch nicht: Der als Vincent John Martin geborene Synthiepopheld Vince Clarke aus Basildon ist seit den Siebzigern musikalisch unterwegs und veröffentlicht erst 2023 ein als Soloalbum deklariertes Werk. Den Titel „Songs Of Silence“ nimmt er nur halb genau, weil auf diesem die Stille durchaus bedienenden Album keine Songs enthalten sind. Sondern Ambient-Experimente mit geringsten bpm-Werten und mehr Soundscapes als Melodien. Das kann er, und selbst, wenn man dies mit seinem Achtziger-Synthiepop nicht in Einklang bringen kann, finden sich sehr wohl Analogien in seiner Discographie. „Songs Of Silence“ passt perfekt in den tiefsten Winter.
Zwei Regeln gab sich Clarke bei der Erstellung dieser „Songs Of Silence“: Alle Tracks mussten mit dem Eurorack erstellt werden, einer Gerätschaft, die unterschiedlich genormte Synthies zusammensteckt, und alle sollten jeweils um nur eine Note kreisen. Diese analogen Synthies nun schwingen im Einklang, Clarke schaltet sie in Reihe und überkreuz sie und entlockt ihnen dunkle Soundscapes, zarte Drones und allerlei unaufdringliche Effekte. Von Dark Ambient ist an mancher Stelle zu lesen, das mag aus Chartssicht zutreffen, aber nicht aus Sicht von Leuten, die wirklich Dark Ambient machen: Clarke ist nicht apokalyptisch, nicht harsch, nicht finster genug für ein solch extremes Etikett. Fröhliche gute Laune vermittelt das Album dennoch nicht, vielmehr untermalt es den chilligen Winterabend, den kontemplativen Rotweingenuss, die flackernden Kerzen am warmen Ofen.
Am seltendsten entlockt Clarke seinem Fuhrpark Beats. In „Scarper“ pluckern sie unauffällig in mittlerem Tempo, in „White Rabbit“ legen sie erst nach der Hälfte des Stückes überhaupt los, ansonsten verlegt er sich auf Flächen, Modulationen und behutsame Effekte; in „Mitosis“ dudelt die Berliner Schule mit. Als Melodien kann man seine Sounds ebenfalls nicht auffassen, schön sind sie trotzdem. Clarke belässt es nicht ausschließlich bei Synthiesounds: Auf „The Lamentations Of Jeremiah“, das es vorab als 7“ gab, spielt jemand namens Reed Hayes ein Cello, eher jazzig als poppig. In „Blackleg“ verarbeitet Clarke zu Drones den gesampelten Gesang von Minenarbeitern aus dem 19. Jahrhundert. Körperlosen Operngesang gibt es in „Passage“, das damit an „The Seduction Of Claude Debussy“ von The Art Of Noise ebenso erinnert wie an die lange Version von „Rock Me Gently“ auf dem selbstbetitelten Album von Erasure, bei dem ausgerechnet Diamanda Galás ihre Stimme zu synthetischen beatlosen Drones erhebt – ganz wie hier.
Es ist also mitnichten neu für Clarke, Ambient zu machen. „Erasure“ erschien bereits 1995, und als The Clarke & Ware Experiment erstellte er zwischen 1999 und 2012 mit Martyn Ware – ja, von The Human League, Heaven 17, BEF und mehr – um die zehn CDs mit Ambientmusik. Neu nicht, aber durchaus anders als das, was man mit ihm handelsüblich verbindet, ab „Speak & Spell“ mit Depeche Mode, ab Yazoo und ab Erasure, ab „Never Never“ von The Assembly mit John Peels Undertones-Punkheld Feargal Sharkey oder auch ab VCMG, dem Minimal-Techno-Projekt ausgerechnet mit Martin Gore, seinem Ex-Kumpel von Depeche Mode. Ein Solo-Debüt ist „Songs Of Silence“ zudem auch nur, wenn man Clarkes ganzen Soundtrack-Arbeiten nicht mitzählt, die in der Tat auch nie von den jeweiligen Filmen separiert erschienen. Wie ein Soundtrack wirkt „Songs Of Silence“ tatsächlich, zum spacigen „Red Planet“ hat man nicht nur des Titels wegen sofort SciFi-Bilder vor Augen.
Einziger Nachteil: Das Album ist kurz, keine Dreiviertelstunde dauert es. Da ist man schneller mit durch, als man sich entspannt hat, in solch Zeiten wie diesen. Dann hört man es halt zweimal. Oder die ganze Nacht durch, die dauert im Winter ja eh was länger.