Von Matthias Bosenick (04.12.2023)
Wer braucht schon Stimmen, wenn die Instrumente stimmen? Bei Ni – Eigenschreibweise ni und nicht etwa Ekke Ekke Ekke Ekke Ptang Zoo Boing – handelt es sich um ein Quartett aus Bourg-en-Bresse irgendwo in den Alpen zwischen Lyon und Genf. Für ihr drittes Album mit dem altfranzösischen Titel „Fol Naïs“ – „verrückt geboren“ wie der Narr am Königshof, und außerdem „voll nice“ – warfen die vier Musiker einen direkten Blick auf Metal und Tempo und reicherten ihren ohnehin schon hochkomplexen jazzigen Mathcore damit an. Für einen Gesang wäre da wahrlich kein Platz, jedenfalls nicht, wenn man nicht Frank Zappa ist. Der hinterließ hier ebenso sehr seine Spuren wie Fantômas, Meshuggah, Aphex Twin, Mr. Bungle und System Of A Down. „Fol Naïs“ ist Kunst, zu der man gleichzeitig headbangen und staunen kann.
Das ist wahrscheinlich der ungewöhnlichste Anteil an „Fol Naïs“: Zwischen die nackenbrechenden Breaks setzen Ni unerwartete Glitches, digitale Verfremdungen, wie man sie von Aphex Twin kennt. Da fackeln sie den Proberaum ab, zerhacken ihn mit Streitäxten, schreddern alles im frisierten Gartenhäcksler, lassen die brachialen Brocken über sich selbst stolpern und schieben ihnen dann noch, rhythmisch passend wie die Faust aufs Griffbrett, den Geist verbiegende synthetische Defekteffekte unter.
Ansonsten ist es inzwischen ja so, dass diese Mischung aus Mathcore und Djent für sich gesehen schon einige Vorläufer hat. Entsprechend kommen einem die genannten Analogien in den Sinn, wenn man „Fol Naïs“ auflegt. Wie immer sind es dann aber die Mischung, die den Unterschied macht, und das Handwerk, mit dem die Franzosen hier zu Werke gehen, und das beherrschen sie respektabel. Sie schieben rhythmische Patterns zusammen, in die sie unerwartete Breaks und Effekte einbauen, generiert mit jedem der zur Verfügung stehenden Instrumente wahlweise abwechselnd bis in wechselnden Kombinationen, und beherrschen dann auch noch die Kunst der minimalistischen Melodie, der abstrakten Harmonie. Was bei manchen Vertretern des jazzinfizierten komplexen progressiven Mathcore bisweilen wie Willkür wirkt, bekommt hier eine Form, die man nicht vorherahnen kann, aber nachvollziehen. Es lohnt sich, der Musik aufmerksam zu folgen, weil sie voller überraschender Details steckt, die inmitten der halsbrecherischen Haken, zu denen man die Haare schüttelt, für einen Mehrwert innerhalb der wertigen Musik sorgen. Nicht zuletzt die eingebauten kontemplativen komplexen Komponenten konstruieren kognitiv köstlich konsumierbare Kompositionen.
Anders können Ni auch: Zum Abschied gibt es mit „Cathelot“ einen Track, der klingt wie die Faith-No-More-Version eines Black-Sabbath-Originals, der also einen geslappten Bass und Riffs hat wie „War Pigs“, übertüncht mit schräg schwebenden Gitarrenflächen. Das Ganze endet mit einer mehr als zweiminütigen Kakophonie wie direkt aus dem Orchestergraben vor dem Konzert – ein umgekehrter Rauswurf quasi, dem Album mehr als würdig.
Los ging die Reise von Ni 2010 mit der selbstbetitelten EP, der sie zwei Jahre später eine weitere EP mit dem Bandnamen als Titel, aber völlig anderen Tracks folgen ließen. 2015 erschien das Debüt-Album „Les Insurgés de Romilly“ und 2019 das für größere Aufmerksamkeit sorgende „Pantophobie“. Dem will die Band mit dem weit brachialeren „Fol Naïs“ einen bewussten Bruch entgegensetzen, und wahrlich, der ist gelungen. So richtig alles war es das aber auch noch nicht: Ni fusionierten mit dem Trio Piol zu dem Projekt PionioL, das 2018 das Album „Bran Coucou“ herausbrachte. In dem Seitenarm Scherzoo schimmert noch ein weiterer Einfluss durch: Diese Band beruft sich auf Zeuhl und somit auf Magma, die Progressivhelden schlechthin aus Frankreich. Ein weiteres Projekt, in dem viele Ni-Ritter untergekommen waren, lautete diatrib(a). An Ni beteiligt sind: Schlagzeuger Nicolas Bernollin, Gitarrist „Vil“ François Mignot, Bassist Benoît Lecomte sowie Gitarrist und Bassist Anthony Béard.
Verrückt geboren müssen sie alle sein, und dem Albumtitel entsprechend benannten sie die Tracks auf „Fol Naïs“ nach – Hofnarren: „Zerkon“ war ein um 440 bei den Hunnen lebender maurischer Zwerg, „Dagonet“ war der Hofnarr von König Artus, „Brusquet“ lebte im 16. Jahrhundert am Hof Franz‘ I., „Berdic“ war einer der drei Narren des Normannenkönigs Wilhelm I., der „Chicot“ genannte Jean-Antoine d’Anglerais lebte im 16. Jahrhundert unter den Heinrichen III. und IV., „Rigoletto“ ist von Giuseppe Verdis Oper bekannt, „Triboulet“ – hier als Stück dreigeteilt – war Narr am Hofe Ludwigs XII. und Franz‘ I. und durch Victor Hugos Theaterstück „Le roi s’amuse“ bekannt, das wiederum die Grundlage für „Rigoletto“ war, und „Cathelot“, die einzige Frau in diesem Reigen, war im 16. Jahrhundert Närrin von Königin Margarete von Valois.