Von Matthias Bosenick (28.11.2023)
Musikalisch eine Hydra, gesanglich jedoch eher ein Grisù: Auf seinem neuen Album „Hic sunt dracones“ erkundet Bruno Karnel die von ihm bislang unerforschten Randgebiete der progressiven Rockmusik, die für eingegroovte Hörer progressiver Musik indes weit weniger unerforscht sind. Mit versierten Gastmusikern setzt Karnel, Musiker aus Meaux zwischen Paris und Reims, seine Visionen um, die er abermals auf Landkarten zwischen ewigem Eis in Skandinavien, der peruanischen Atacama-Wüste und dem historischen Mexico ansiedelt. Seine Musik ist zumeist von einer dominanten Leadgitarre getrieben, lässt auch Streichern und Orgeln Raum und transportiert den Grundlagen entsprechend wechselnde Stimmungen. Den Gesang indes hätte Karnel getrost ebenfalls anderen Leuten überlassen und sich ganz aufs Musizieren verlegen sollen: Seine Stimme ist nicht ganz treffsicher und versetzt dem Hörgenuss einen Stoß zwischen die Schulterblätter. Hic est Sifridus.
Kontemplativ beginnt Karnel die Reise ins Drachenland, erst im Verlauf des Openers „La grise, la triste, l’horrible“ lässt er die Band einsteigen, mit songdienlichem, aber doch auffallend agilem Schlagzeug, das mit Gitarren und Bass der Rockmusik zu Diensten steht, bei Bedarf unterstützt von Cello und Orgel, und die Kombi ergibt eine musikalische Narration, die Karnel für das gesamte Album beibehält. „Abscisses désordonnées“ beginnt mit der flächigen Lead und erweitert sich zum balladesken Rocksong, „Mare congelatum (Der Wanderer)“ beginnt vom Piano getragen und driftet in eine Art heruntergedimmter Prog-Rock-Ballade und von dort in die orgelgefütterte Folklore. Erst in „Mythologie vinyle“ kommt ein flotteres Tempo auf, das sich in Richtung tanzbarem Rocksong entwickelt.
In der Gemengelage bleibt es, zögerliche Intros, die sich behutsam in neue Richtungen steigern. Den Metal erkundet Karnel indes nie, so extrem wird er dann doch nicht. Er verharrt vor dem angehärteten Rock, den er eher wie im Folk-Prog umsetzt, und generiert ansonsten gern fragile Konstrukte aus eher rockfernem Instrumentarium, das ins Genre indes sehr gut passt, eben Streicher, Elektronik, orientalische Saiteninstrumente oder Keyboards. Aber Metal, nein, dort sind für Karnel weiterhin Drachen. Ob man sich beim Hören nun wirklich in Norwegen, Lima oder Mexico befindet oder einfach nur eine ausnehmend abwechslungsreiche musikalische Wanderung vollführt, ist dabei sogar eher unerheblich.
Nur der Gesang. Karnels Stimme klingt stets schief, als könne er die Noten nicht halten, die er sich ja selbst ausdenkt, und treibt sich dazu auch noch in höchste Höhen, auf denen er dann noch weniger trittfest ist. Das hat etwas Amateurhaftes, das den Gesamtgenuss seiner Musik schmälert. Wie schade, denn die Anlagen sind ja gegeben.
Nicht zum ersten Mal, Karnel hat haufenweise Musik auf seinem Zettel stehen, ausgehend von der EP „Mirages“ aus dem Jahre 2011, die er komplett allein einspielte. Für „Hic sunt dracones“ trommelte er ein versiertes Team zusammen: den Schlagzeuger Pavel Ljubičić, die Bassisten Julien Waghon, Antonin Smirr und Oleh Mytrofanov, die Gitarristen Matthieu Gajewski, Ricardo Da Silva und Florent Morel, für Piano, Mellotron, Hammondorgel, Mini-Moog, Celesta und Rhodes Alessio Medeot, die Cellistin Polina Faustova, die Background-Sängerin Sonia sowie den Guitarrón-Spieler Angel Terán. Den Rest übernimmt der Chef: Gesang, diverse akustische und elektrische Gitarren, Domra, Charango, Mandolinen, Saz, Keyboards, Programmierte Sounds und Field Recordings. Ja, wundervoll experimentell angelegt, versiert dargeboten, aber der Gesang, der schreckt Drachen eher ab, als dass er nach ihnen klingt. Kann ja auch hilfreich sein, wenn man in deren Gebiet vordringt.
Die CD erscheint im März 2024, den Download gibt es bereits.