Von Guido Dörheide (22.11.2023)
„The Journey, Pt. 1“ (bereits im März erschienen) und „Pt. 2“ stellen mit insgesamt 70 Songs und über dreieinhalb Stunden Gesamtspielzeit alle bisherigen Greatest-Hits-Kompilationsalben der großartigen Band [The Kinks, Anm. d. Hrsgbr.] in den Schatten und sind darüber hinaus liebevoll remastered. Und bei „Lola“ heißt es auch „Coca Cola“ anstatt „Cherry Cola“, halt wie es sich gehört.
Mit „Dedicated Follower Of Fashion“, „Dandy“, „Days“, „Waterloo Sunset“, „A Well Respected Man“, dem bereits erwähnten „Lola“ und nicht zuletzt Dave Davies’ Solo-Hit „Death Of A Clown“ zeichnen die Kinks für einige meiner Allzeitlieblingslieder verantwortlich, und alle davon sind selbstverständlich auf „The Journey“ vertreten. Zu verschmerzen ist, dass das tolle „The Village Green Preservation Society“ und das ebenso tolle „Victoria“ hier fehlen, denn die Alben „The Kinks Are The Village Green Preservation Society“ und „Arthur (Or The Decline And Fall Of The British Empire“ lohnen ohnehin, sie in der Sammlung zu haben und bisweilen komplett durchzuhören.
Trotz der Länge und der immensen Menge an Stücken macht es keine Schwierigkeiten, beide Teile von „The Journey“ am Stück durchzuhören und dabei festzustellen, wie viele Bands von den Kinks beeinflusst wurden. Mit „You Really Got Me“ und „All Day And All Of The Night“ (wunderbar gecovert von den jungen Van Halen und den mittelalten Stranglers) legten Ray und Dave Davies, Pete Quaife und Mick Avory die Messlatte in Sachen Härte sehr, sehr hoch, während die weniger harten, dafür umso mehr verspielten und melodiösen Stücke die Blaupause für große Teile des britischen Alternative Rock abgaben. Und das ganze Material ist nahezu grandios gealtert – es lässt sich auch 60 Jahre nach der Bandgründung (daher ausgerechnet jetzt die beiden Kompilationen) noch wunderbar hören, sorgt nach all den Jahren für manchen Aha-Effekt und macht Laune ohne Ende.
Ich bin erst sehr spät zum erklärten Anhänger der Perversen (so meine Lieblingsübersetzung des vieldeutigen Bandnamens) geworden, der stete Tropfen hat quasi den Stein gehöhlt: Zuerst war „Op dä Deckel vum Clown“ von BAP, 1988, das mir ob seiner Melodie ausnehmend gut gefiel, außerdem finde ich die kölsche Übersetzung des Titels „Death Of A Clown“ einmalig gut gelungen. Dann kam Kirsty MacColl, die 1989 eine wunderwunderschöne Coverversion von „Days“ veröffentlichte, und schließlich war es Billy Bragg, der 1991 in dem Song „Accident Waiting To Happen“ den Dedicated Follower of Fashion zu einem Dedicated Swallower of Fascism verballhornte. Elvis Costellos Version von „Days“, die er 1995 unter Zuhilfenahme prähistorischen Gitarrenequipments, dem nurmehr ein wimmerndes Quietschen zu entlocken war, erstellte, sowie die mir erst später taugenden Covers von Van Halen und den Stranglers waren somit nur der Strohhalm, der dem Kamel das Genick brach und mich zwang, mich mal damit zu beschäftigen, dass die Wiege der zeitgenössischen britischen Stromgitarrenmusik eben nicht von Mick, Keef, Brian/Mick/Ronnie, Bill & Charlie oder John, Paul, George & Ringo, sondern eher von den Mannen um den sowohl als Komponisten genialen als auch gesanglich unverkennbaren Ray Davies mit ihren zugänglicheren und zugleich musikalisch originärer britischen Songs geschaukelt wurde.
Wer sich bisher nicht mit dem Werk der Kinks beschäftigt hat, dem wird mit „The Journey“ eine Gelegenheit geboten, jetzt voller Begeisterung einzusteigen.