Von Matthias Bosenick (09.11.2023)
Endlich wieder Filmfest in Braunschweig, auch BIFF genannt! Und endlich auch mal wieder Filme von vertrauten Regisseuren: Den Auftakt macht Wim Wenders mit seinem Zen-Film „Perfect Days“, in dem er einen sympathischen Toilettenreiniger in Tokyo dabei begleitet, wie er beinahe wortlos seinen Alltag verbringt und sich über Kleinigkeiten freut. Bis es einigen Anlass zu abweichenden Gemütslagen gibt. Zwei Stunden Achtsamkeit in Omu mit 60er-70er-Rock-Soundtrack und auch ohne Cinemascope ansehnlichen Bildern.
Die erste Tagesroutine begleitet man ausführlich: Hirayama erwacht vom Geräusch einer Straßenfegerin, rollt seinen Futon zusammen, absolviert Körperhygiene und Pflanzenpflege, holt sich aus einem Automaten vor dem Haus eine Dose Kaffee und fährt mit seinem Kleintransporter durch das autobahnquirlige Tokyo, den markanten Fernsehturm Skytree immer im Blick und Tapes mit Rockalben im Kassettendeck. An jeder öffentlichen Toilette, die er zu reinigen hat, ist er unterschiedlichen Ablenkungen ausgesetzt, zwischendurch nervt ihn sein jugendlicher Kollege, in der Mittagspause fotografiert er seinen Lieblingsbaum. Nach Feierabend geht’s ins Badehaus, zum Ramen-Imbiss, in die Buchhandlung, zum Fotolabor, zur Nacht liest er auf dem Futon Bücher, nachts träumt er in Schwarzweiß von den Erlebnissen des vergangenen Tages. Der nächste Tag verläuft identisch, jedenfalls nahezu, den je länger man Hirayama begleitet, desto mehr entwickeln sich Ereignisse um ihn herum: Sein Kollege wird unzuverlässig, sein Imbisswirt ist im Stress, wenn Baseball im TV läuft, und plötzlich steht seine Nichte vor seiner Tür und lässt unbewältigte Ereignisse aus seiner Vergangenheit in Hirayamas Leben zurückfließen. Er lehrt letztlich, wie man trotzdem glücklich sein kann.
Einmal die Routine vollständig und beim zweiten Mal verkürzt gezeigt zu bekommen ebnet den Weg für die Abweichungen, denn danach kann Wenders die Tage verkürzen und der Zuschauende weiß trotzdem, an welchem Punkt von Hirayamas Tag er sich gerade befindet. Zunächst sind die Abweichungen neutral bis positiv: ignorante Leute, die dringend aufs Klo müssen, verlorene Kinder, die er zurückbringt, ein anonymes Tic-Tac-Toe-Spiel mit einem WC-Benutzer, ein Schattenspiel hier, eine Reflexion dort, Hirayama hat den Blick für Details. Darin erinnert „Perfect Days“ an den Manga „Der spazierende Mann“ von Jirō Taniguchi (谷口 ジロー), ein Lehrstück in Achtsamkeit quasi.
Hirayamas Stimme bekommt man erst spät im Film länger zu hören, wenn die Einbrüche in seine Routinen mehr Text von ihm einfordern: Sein aufgedrehter jugendlicher Kollege Takashi bettelt ihn um Geld an und will ihn überreden, in einem beeindruckend riesigen Plattenladen seine wertvollen Tapes zu verkaufen, damit er Takashi Geld geben kann, mit dem er Aya beeindrucken will. Als seine Nichte Niko bei ihm Unterschlupf sucht, bekommt man erst mit, dass Hirayama überhaupt so etwas wie Familie hat – mit seiner offenbar eher wohlhabenden Schwester, die wegen seiner einfachen Lebensweise Abstand zu ihm hält, sprach er ewig nicht und weiß daher auch nicht, dass sie geschieden ist und dass ihr Exmann Krebs und daher nicht mehr lang zu leben hat. Und als Takeshi kündigt und er dessen Schicht übernehmen muss, ist Hirayama sogar einmal wütend zu erleben. Hirayama muss reagieren und sich auseinandersetzen, bleibt dabei oft unkonventionell und lässt doch Tränen und Trauer in sein Glück fließen, im minutenlangen überwältigenden Minenspiel am Schluss zum Ausdruck gebracht.
Man erwartet eigentlich ruhigere Bilder und Abläufe, als der Film tatsächlich zeigt. Hirayama wickelt seine Routinen oft im Eiltempo ab, auch wenn es kontemplativ sein soll. Entsprechend begleitet ihn auch die Kamera ungebremst durch den Tag. Die Bilder sind dieses Mal nicht so fotografisch durchkomponiert, wie man es bei Wenders kennt, sondern eher dokumentarisch gehalten, nah am Menschen, beiläufig bisweilen, der Ausschnitt im alten TV-Format 4:3 gehalten, und doch gewinnen die Bilder an Schönheit, je länger man den Protagonisten verfolgt. Wie bei Wenders gewohnt ist auch hier Musik ein wichtiger Bestandteil, indem er Hirayama Tapes von den Animals oder van Morrison hören lässt und Aya sich an „Patti Sumisu“, also Patti Smith, erfreut. Und klar, der Titel des Films ist an „Perfect Day“ von Lou Reed angelehnt. Einen zusätzlichen Chen Score gibt es nicht, und die Songs kommen vornehmlich nur dann zum Einsatz, wenn Hirayama herumfährt.
Das Achtsame drückt Wenders auch damit aus, dass die Technik, die Hirayama nutzt, veraltet ist: Tapes statt Spotify, ein Klappmobiltelefon statt eines Smartphones, Bücher statt Fernsehen. Mit Kōji Yakusho (役所 広司) fand Wenders einen perfekten Schauspieler, um den sympathischen Nukleus des Films darzustellen: Man begleitet ihn gern, sieht ihn gern lächelnd auf seine Begegnungen reagieren. Kein Wunder, dass er in Cannes dafür die Goldene Palme bekam, auch wenn Preise ja kein Qualitätsmaßstab sind. Und man lernt nebenbei etwas über die Toilettenkultur in Tokyo und bekommt die Funktionsweise der halbtransparenten Örtchen erläutert. Kein Wunder, ist die Ausgangslage für den Film doch eine Anfrage der gezeigten Firma The Tokyo Toilet, eine Doku über das Unternehmen zu drehen, aus der Wenders kurzerhand und spontan in nur zwei Wochen diesen Spielfilm machte. Nicht der erste Ausflug Wenders‘ nach Japan übrigens: 1985 drehte er die Doku „Tokyo-Ga“ über den Regisseur Yasujirō Ozu.
Ist Wenders‘ „Pina“ echt schon wieder zwölf Jahre her? Danach drang nix von ihm weiter zum Rezensenten durch, bis jetzt zu „Perfect Days“. Aber nun steht ja auch „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ an, das Porträt des Künstlers Anselm Kiefer, dessen Arbeiten auch im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen sind.