Von Matthias Bosenick (25.10.2023)
Kaum ist der Sommer vorbei, schwingt sich Bert Olke alias B. Ashra aus seiner sonnenbeschienenen Hängematte und erarbeitet gleich drei Releases mit – Dark Ambient, Ambient, spaciger Instrumental-Synthiemusik, Drones, also lauter Sachen, die man mit Sonne eher nicht assoziiert. „Gnome“ ist eine getragene Piano-Ambient-Single, „Dark Moments“ löst sein titelgebendes Versprechen mit dunkelsten Soundscapes ein und „Aurora“ ist ein chilliges Livealbum, das er Anfang Juni beim Open Ear Ambient Festival in der Fränkischen Schweiz mitschnitt. So darf es gern Herbst werden!
B. Ashra – Gnome – Separated Beats Records 2023
Bei „Gnome“ handelt es sich um nur einen Track, der aktuell in kein anderes Konzept Olkes passt und den er deshalb separiert veröffentlicht. Wobei der Titel in die Irre führt, was die Songlänge betrifft: Mit fast zehn Minuten ist „Gnome“ alles andere als zwergig. Auf drei dezenten Klaviertupfern, die sich in den Tonhöhen verändern und die unablässig in einer sehr gebremsten Schleife laufen, basiert das Stück, dazu gestaltet Olke im Hintergrund warme Flächen und lässt einen Synthie gelegentlich im Vordergrund einen atmosphärisch passenden zart gedämpften Kreischsound erzeugen. „Melancholic Space Ambient“ nennt Olke das Stück selbst, und das trifft es, denn das Klavier strahlt zwar Wärme aus, doch erklingt es in so geringer Abfolge, dass es vielmehr eine Leere umklammert, als dass es ein kompaktes Stück Musik ergäbe. Minimal Classic oder Kammermusik fallen dazu außerdem ein.
Weil Olke trotz aller Melancholie Humor hat, erstellt er als zweiten Track einen halb so langen „Radio Edit“ von „Gnome“. Die Hoffnung kann man nur teilen, dass so etwas mal im Radio Berücksichtigung finden könnte. Tatsächlich gelingt ihm das Kompakte, das Stück funktioniert in beiden Versionen gut. Zum Tanzen indes lädt es nicht ein, dafür ist es nun wirklich zu langsam.
B. Ashra – Dark Moments – Klangwirkstoff Records 2023
Dies ist B. Ashras Solo-Album Nummer 17, sagt Olke, und der muss es wissen. „Dark Moments“ orientiert sich einmal mehr an der Kosmischen Oktave von Hans Cousto, die – kurz gesagt – die Rotationsfrequenzen von wahlweise Atomen und Molekülen oder Himmelskörpern auf hörbare Frequenzen umrechnet. Darauf basierend erstellen Cousto-Fans Musik, B. Ashra eben ebenfalls.
Für „Dark Moments“ begibt sich Olke in wahrhaftig dunkle Gefilde, für mehr als eine Stunde. Seine Musik atmet tief und dunkel, sie dröhnt unterschwellig, sie rauscht wie eine im Hintergrund laufende ewige Apparatur, sie raschelt im Verborgenen, sie ist der verschollene Güterzug in der Ferne, sie ist der gigantische Kryptid, der in tiefsten Meeren ganz nah am U-Boot vorbeischwimmt, sie ist die Angst der Verirrten in der endlos leeren Fremde, sie ist das aufgegebene sakrale Gemäuer, sie ist der Tanz der wiedervereinigten Geister, sie ist die bedrohlich aus dem Ruder gelaufene Klangschalentherapie, sie ist der vom Kurs abgekommene Astronaut irgendwo im All, sie ist der Glöckner der Totenglocke, sie ist der sporadisch schlagende Taktgeber auf der Totengaleere, sie ist der manische Organist einer weit abgelegenen Kirche, sie ist die letzten Atemzüge eines gestrandeten Leviathans, sie ist das Ächzen eines im Sturm auf Grund gelaufenen uralten Schiffes, sie ist die in Superzeitlupe abgespielte Aufzeichnung einer Massenkarambolage, sie ist der Hilferuf eines gejagten Mastodons, sie ist der Soundtrack zu einem Horrorfilm, der erst dadurch im Kopf entsteht, dass man sie hört, und nicht, weil das eigene Leben einen solchen Soundtrack erfordert.
Erstaunlich, dass es diese Musik auf so etwas Harmlosem wie Planetenumdrehungen basiert. Ebenso erstaunlich ist, dass sie durchaus und trotzdem zu entspannen in der Lage ist, sofern man sich vor den Abgründen dieser Existenz nicht verschließt und offen ist für eine wohlige Beklemmung, für einen fatalistischen Eskapismus. Einen minimalistischen außerdem: Olke überfrachtet seine Stücke nicht, er belässt es bei wenigen Soundquellen, die er sich frei entfalten lässt, die auf diese Weise umso mehr Wirkung erzeugen. Damit vermeidet er zudem Klischees, denn selbst ein so abseitiges Genre wie Dark Ambient hat durchaus seine gefälligen und plakativen Vertreter. Zu denen Olke mitnichten gehört.
B. Ashra – Aurora – Klangwirkstoff Records 2023
Auch die 15 Tracks des zweistündigen Live-Albums „Aurora“ basieren auf der Kosmischen Oktave. Der Titel „Morgenröte“ ist bestens gewählt, beginnt Olke doch das Seit mit sanftem Vogelgezwitscher, in das sich ein Synthiesound erhebt, und in der Tat hat dieser Opener etwas Erhebendes, man erhebt sich mit ihm aus dem Schlummer, schlägt entspannt die Augen auf, lässt den Augenblick wirken, verfolgt den Lauf der Morgensonne durchs Fenster an Wand und Decke, oder, falls man sich gerade auf einem Festival befindet, einfach am Firmament, bis sich die Sinne an den Zustand des Erwachtseins gewöhnen und auf mehr und mehr Eindrücke einlassen. Ein Radiowecker vielleicht schaltet sich ein, man hört jemanden Informationen wispern, weitere Vögel gesellen sich in den Chor der Gefiederten. Es dauert gut 20 Minuten, bis Olke seinem Maschinenpark mobilisierendere Töne entreißt: Inmitten des dritten Tracks wirft er einen Synthie an, der eine kurze energetische Sequenz in die Morgenstimmung schickt. Kein Grund zur Eile: Olke behält das Entspannende bei, die Sounds bleiben flächig, lediglich die Vögel entschwinden, vermutlich, um ihrem Tagewerk nachzugehen.
Oder ist es etwa doch eher Abend und bei der titelgebenden „Aurora“ handelt es sich um eine Aurora Borealis? Es könnte durchaus zutreffen, dass die alsbald einsetzenden transparent flirrenden Synthieeffekte eine akustische Version der flüchtigen Polarlichter darstellen. Doch ab dem fünften Track, also in zweiten Viertel des Sets, gewinnen die jazzartigen Melodien des Synthies an Tempo und an Lebendigkeit, obgleich das Drumherum im Chillmodus verweilt. Wir sind im fünften Track unterwegs, Olke verändert die Elemente, mit denen er seine Flächen begleitet, er moduliert die Sounds, arpeggiert die Akkorde, die Musik wird zuhörends agiler, im Hintergrund gar streckenweise cineastischer. Vermutlich sind wir eher doch beim Frühstück angelangt. Im sechsten Track wirft Olke einen Motor an, jedoch einen zwitschernden, der eine umhermäandernde Synthiemelodie durchkreuzt. Die aufsteigende Tonfolge im siebten Track zitiert „Heimcomputer“ von Kraftwerk, und dazu lässt Olke in der Mitte des Tracks und also auch knapp in der Mitte des Sets erstmals Synthdrums erklingen, für einige Momente, dann übernimmt ein jazzendes Keyboard das Ruder, bis eine entschleunigte Kickdrum sanft dazukommt.
Zur zweiten Sethälfte begibt sich Olke mit den Hörenden in den Urwald, Regenmacher, Rasseln und Bambus-Windspiele bestimmen den Sound, ein indigener Gesang setzt ein. Diese Art Tagesablauf ist dann doch eher unkonventionell. Alsbald entwickelt sich eine unerwartet beklemmende Stimmung, die Musik, die Sounds, die Atmosphäre werden unbequem, und Olke hält die Hörenden für einen ausgedehnten Moment in dieser Spannung, die er nur zögerlich wieder freigibt. Und zwar mit klaren Sounds, einem tiefer gespielten Synthie mit dezenten höheren Tönen dazu, die an Achtziger-Synthpop denken lassen, nur ohne Beats, eher wie man sich ein Zwischenspiel vorstellen könnte, das hier weit ausgedehnt ist. Und das Olke danach wieder unwohlig zerkratzt. Hat man sich erstmal auf das Chillige eingelassen, fordert er die Hörenden heraus, denn hernach lässt er zwei dissonante Töne sprunghaft umeinander kreisen; man fühlt sich abermals an Kraftwerk-Experimente erinnert. Die Achtziger-Anmutung behält Olke für die nächsten Tracks bei, bis er im vorletzten einen kopfnickbaren Synthiebeat hinzufügt, der aus dem Stück eine Art sehr verlangsamten Acid-House macht. Abschließend dringt ein aufwühlendes Soundgemisch aus dem Set hervor, mit einem Rhythmus, der zu den jazzartigen Melodien quer zu laufen scheint, in quirlige Acid-Sounds kippt und die Hörenden zurück in die Gegenwart holt. Nun ist man definitiv vollends erwacht.