Von Matthias Bosenick (24.10.2023)
Von jemandem namens Maurizio Vitale erwartet man eine etwas lebensbejahendere Musik als die auf „St. Lola“, dem Debüt seines seit sieben Jahren in Berlin vor sich hin schwelenden Projektes mit dem zweifelhaften Namen Lolita Terrorist Sounds. Unter anderem bei den Swans geborgte Mitmusiker (Christoph Hahn) generieren mit ihm eine unter anderem bei den Swans in Schule gegangene schleppende Industrial-Noise-Musik, aber eben nicht nur: In Vitales Dunkelheit liegt Schönheit, seine noisigen Effekte übertüncht er mit warmen Melodien, unter anderem generiert von Cellistin Anke Brauweiler und Pianist Roderick Miller. Laut Info ist dieses spartanisch aufgenommene Album außerdem das Vermächtnis des Performancekünstlers Robert „Bob“ Rutman.
Der Einfluss der Swans lässt sich nicht überhören, besonders der früheren, von vor dem Split und vor der Evolution zu einer Band, die auch Popmusik zu machen in der Lage ist: Die Drums, von Vitale teils wie bei den Einstürzenden Neubauten, eines weiteren Einflusses, auch aus Fundsachen wie Gastanks, Metallteilen und anderen Materialen zusammengestellt, rummsen wuchtig und zumeist schleppend, die Musik drumherum bleibt vornehmlich monoton, tieftönig und derangiert, Vitale selbst skandiert dazu tiefstimmig wie Swans-Chef Michael Gira. Wenn dann Christoph Hahn noch seine Lap-Steel-Gitarre auspackt, die man von ihm zuletzt eben maßgeblich bei den Swans vernahm, dringt deren Anmutung umso deutlicher hervor. Die Vergleiche zu den New Yorkern reichen bis hin zum atonalen Rauswerfer „Living-In-Glory“, der aus gelegentlich gezupftem Bass, raschelndem Noise und einem geisterhaften Chor besteht, auch so etwas riecht stark nach den Swans.
Doch dabei belässt es Vitale nicht. Sobald seine Musik an Tempo zulegt, wie im „Prison Song“, und er zu singen beginnt, dringt wahrhaftige Schönheit in den Sound, und das, obwohl er im Hintergrund seine Mitstreitenden verstörende Geräusche generieren lässt. Dräut er eindringlich vor sich hin, erinnert seine Darbietung an den kaputten Rock der alten Sachen von Nick Cave And The Bad Seeds; das schleppende „Red Carpet“ etwa könnte aus jener Epoche stammen, gleichsam gebrochen und melodisch. „Mind The Gap“ zieht das Tempo wieder an und gibt sich der Illusion eines klassischen Rocksongs hin, wären da nicht die sägende Gitarre und das monotone Grundgerüst. In „Curse“ lebt die Band ihren Hang zum Industrial richtig fett aus, das Stück hat Wucht, donnert mächtig, mit verzerrten Stakkato-Riffs ginge es glatt als Metal-Stück durch, kurz vor Schluss scheint Vitale den Them-Hit „Gloria“ zu zitieren. Der Titeltrack beginnt mit kreischendem Noise und schwenkt dann in alte Swans um. Zuletzt gibt‘s eben das gespenstische „Living-In-Glory“, das mitnichten danach klingt.
Um alle Aspekte an „St. Lola“ erfassen zu können, muss man sich mit der Info auseinandersetzen. Und die ist üppig. Hinter jedem Song steckt eine Botschaft, Vitale orientierte sich in seiner Lyrik an der von Nick Cave. Seine Themen reichen weit, von den kulturellen Unterschieden zwischen Berlin und London über Liebesdramen, Auseinandersetzungen mit dem Ruhm, Ritualen, LGBTQ+ und ASMR, die Autonome Sensorische Meridianreaktion, also das angenehme Kribbeln auf der Kopfhaut. Noch wichtiger sind ihm beinahe die Umstände der Aufnahmen, so die Info: „Die auf ‚St. Lola‘ präsentierten Songs wurden in einem ehemaligen Ostberliner Geisterhaus aufgenommen, das zu Mauerzeiten von den Geheimdiensten genutzt wurde.“ Das hatten wir ja so ähnlich beispielsweise bei Can auch schon; interessant ist nur, wie man aus einem Geisterhaus ein ehemaliges Geisterhaus macht – Exorzismus? Von einem „esoterischen Ansatz“ ist jedenfalls die Rede, und da möchte man schon fast wieder weghören, doch bezieht Vitale das auf eher unesoterische Elemente, nämlich die Zahl und die Beschaffenheit der Mikrofone, die er im Raume aufstellte, und, natürlich, dann doch wieder „die Magie des Augenblicks“. Um welches Gebäude es sich handelte, lässt Vitale jedoch offen, wohlweislich.
Und es gibt noch einige harte Fakten, etwa zu den zusätzlich zu den bereits genannten weiteren beteiligten Musikern, wie die Bassisten Simon Goff und Ralf Goldkind (erprobt unter anderem bei Hugo Race & The True Spirit und Lucilectric, eine ähnliche Spannbreite wie bei Cellistin Brauweiler, die mit Quarks, Ezio und Freddy Fischer arbeitete). Nicht zu vergessen der Beitrag von Robert Elias Maria Rutman, der im Juni 2021 verstarb und zu „Shaved Girl“ in beiden Fassungen (der Song kam bereits 2017 als zwei Minuten längere Live-12“ mit Etching auf der B-Seite auf dem The-Residents-Label Psychofon Records heraus) das Cello und das Glockenspiel beitrug. Der Neapolitaner Vitale selbst hat zudem ebenfalls eine umfangreiche Biografie, parallel veröffentlichte er etwa mit der Band The Heat Inc. das Debüt „Asleep In The Ejector Seat“. Die Info verrät ergänzend: „Vitale hat in der Vergangenheit und Gegenwart mit Mitgliedern bekannter Bands wie den Einstürzenden Neubauten, Swans, Iggy Pop, Thåström, PJ Harvey und Faust zusammengearbeitet. Sein Talent stand im Dienst des legendären Sabar-Schlagzeugers Doudou N’Diaye Rose (SN) und er hat mit der deutschen Sängerin Andrea Schröder [Schroeder, Red.] im Studio und live gespielt.“ Aus diesen Quellen speist sich nun also „St. Lola.“
Den etwas befremdlichen Namen Lolita Terrorist Sounds kombinierte Vitale nach Cut-Up-Methode, indem er dem Titel von Vladimir Nabokovs Buch etwas Gewaltvolles entgegensetzte und es mit dem Begriff für Klang ergänzte. Okay, das ist ähnlich konträr wie der Bandname Good Girl Massacre. Seinen kritischen Blick auf das Lolita-Thema belegt Vitale auch damit, dass er die als „Emanzipations-Hymne“ bezeichnete Single „Shaved Girl“ als neue Studioversion im Pride Month veröffentlichte. Und damit einen Gig von Anna von Hauswolff eröffnete. Weitere Fakten aus der Info: Reinhard Kleist, der diverse Musikerbiografien als Comic zeichnete, gestaltete das Cover von „St. Lola“. Während der Pandemie etablierte die Band eine Kochshow namens „Lolita Kitchen Sounds“ als Stream. Und damit soll es nun gut sein.
Die Musik auf „St. Lola“ ist für Leute, die die Einflüsse von Lolita Terrorist Sounds bereits im Regal stehen haben, keine besonders innovative Angelegenheit, vielmehr ein geglücktes Experiment, eine überzeugende Zusammenfügung verschiedener Quellen und eigener Ideen. Eine Art exquisiter Retro-Arbeit also für Hörende, die damals noch nicht dabei waren, und für solche, die Musik dieser Art heute vermissen. Them ja, Kinks nein übrigens: Eine Neufassung von „Lola“ gibt es hier nicht zu hören. Vielleicht kommt die ja noch.