Von Matthias Bosenick (13.10.2023)
Es sind sogar 117 elektrifizierte Gitarren, die an diesem Projekt beteiligt sind, und man muss in der Tat darüber lesen, bevor man sich das Album anhört, weil man sonst nicht erfasst bekommt, was man sich da gerade vor Ohren führt. Zwar steht „Bateau Ivre“ auch für sich allein als angenehm goutierbares musikalisches Experiment da, doch bekommt es mit den Hintergrundinfos mehr Seegang: Hinter 100 Guitares Sur Un Bateau Ivre, kurz GSUBI, steht Projektleiter Gilles Laval, der seine Wurzeln in der Punkszene von Lyon hat und seit 2017 für diese Vertonung des Gedichtes „Das trunkene Schiff“ von Arthur Rimbaud durch mehrere französische Städte zog und mit lokalen und ihn begleitenden E-Gitarristen die turbulente Ozeanreise des bedichteten Wassergefährtes nachzeichnete. Das nach dem Gedicht „Bateau Ivre“ benannte Album, das nun als ein Ergebnis vorliegt, ist überraschend ausdifferenziert: 100 Gitarren auf einmal wären Soundbrei, und den gibt es hier nicht. Herkömmliche Rockmusik indes auch nicht, und hier steigt man gern ins Saufboot ein, wohl wissend, dass es in den finsteren Abgrund geht.
Auf Youtube kann man sich ansehen, was man gerade hört: „Des ses longs cheveux bleus“ beginnt still, mit sparsam angeschlagenen einzelnen Akkorden und rauschenden Sounds. Die erzeugen einige der Gitarrespielenden, indem sie Papierknöllchen über die Saiten reiben. Andere picken dazu die Saiten auf dem Bund, wieder andere schlagen den Einzelton an. Das Boot reißt sich von der Leine und beginnt seine Reise auf einem Fluss, den Ozean ansteuernd; zunächst trudelt es aufgeregt, aber in ruhigen Fahrwassern vor sich hin. Ein reduzierter Drone begleitet es, die Töne werden alsbald lebendiger, unkontrollierbarer, ein kurzer Noise setzt sich frei.
„Embellie“ bringt die ersten Melodien mit, zunächst etwas weniger spärlich angeschlagenen, dieses Mal sogar wechselnden Akkorden, dann mit einer entspannten Melodie darüber. Die Gitarren bratzen nicht, das unterlassen sie bis kurz vor Schluss; die Akkorde sind warm, die klaren Sounds ebenso. Dann greifen die Musizierenden wieder in die Effektekiste und generieren Rasseln und Stöhnen, das sie nach einer Weile von der vorher generierten Struktur begleiten und bald ersetzen lassen. Man wähnt sich auf Wellen.
Das dritte Stück, „Roches“, dürfte neben dem Titelstück und dem Finale das Rock-artigste auf diesem Album sein, hier greift ein flotterer Rhythmus, zu dem man gut keltische Volkstänze aufführen kann. „Chaloupes“ trägt eine beinahe osteuropäische Melancholie in sich, am Schluss klingen die Gitarren fast wie Orgeln. Das folgende Titelstück würde sich bei voller Instrumentierung, also mindestens mit Bass und Schlagzeug oben drauf, ganz gut im Progrock einsortieren lassen – es hat Brüche, experimentelle Passagen, nachdrückliche Melodien und in sich eine imaginierte Rocksongstruktur. „Cachalots Hugs“ ist ein wildes, experimentelles Zischenspiel und „Unsaved“ steuert unerbittlich dem Abgrund entgegen, zunächst im Gewand einer Art Song, dann in einer Reihe von Ein-Akkord-Riffs und dann in Form eines kakophonischen Pandämoniums, ganz wie bei Rimbaud.
Man kann sich nur wundern, dass man so vielen Menschen mit Gitarren in der Hand zusieht und –hört, die sich zurückhalten können und nicht einfach Riffs und Gebretter losbrechen lassen. Da hat der Konduktör seine Meute gut im Riff-Griff. Vielmehr lässt Laval seine Leute alles Denkbare und Undekbare aus den Rock’n’Roll-Instrumenten herausholen, um Rimbauds Gedicht eine akustische Entsprechung zu geben. Die aufgewühlte See schwingt stets mit.
Nicht nur die Kunst ist dabei Lavals Ziel. Mit dem Projekt verbindet der Musiker, Künstler und Gitarrenlehrer Gilles „Papa“ Laval, mit einer umfangreichen Biografie von Punk über Jazz bis Improvisation, gitarrespielende Menschen aller Grundierung, also egal, ob Amateur oder Profi, Solist oder Bandmitglied, und außerdem natürlich sämtlicher Geschlechter, Alter oder Herkünfte. Auf der Webseite gsubi.com würdigt er sie alle und präsentiert auch Videos und Weblinks zu den entsprechenden Bands der Beteiligten. Mit denen reiste er nun durchs Land und trat an verschiedenen Orten auf: 2017 ging es los, in Lyon Underground und Croix-Rousse sowie in Villeurbanne, 2019 in Avignon, 2020 im Studio. Auch abseits der 117 beteiligten Gitarristen stand ihm ein umfangreiches Team aus Produzenten, Technikern, Filmern zur Seite, und Lavals Ziel ist es, unter den sich zunächst fremden Leuten Verbindungen herzustellen, ihre Kreativität zu bündeln und sie dazu zu motivieren, eigene Projekte anzugehen. Ein weiteres Anliegen ist es Laval, mit diesem Projekt auf die Schutzbedürftigkeit der Ozeane hinzuweisen; er bezeichnet „Bateau Ivre“ als „ökopoetisches Stück“.
Und es ist mit der Veröffentlichung dieses bewegenden Albums nicht abgeschlossen: Erst im Juni brachte Laval „Bateau Ivre“ beim „Fête de la Musique Leipzig“ zu Gehör, in reduzierter Form indes, also mit lediglich 40 Musikern, je zur Hälfte aus Lyon und Leipzig. Und es soll offenbar weitergehen, nur hoffentlich nicht in den Abgrund wie bei Rimbaud.