Von Matthias Bosenick (21.09.2023)
Wenn man sagt, Aki Kaurismäki habe mit „Fallende Blätter“ eine Liebeskomödie gedreht, trifft das im Vergleich mit den bisherigen Kaurismäki-Filmen sehr zu, dürfte aber Leuten, die gerne Liebeskomödien gucken, zu deprimierend sein – weil hier sowohl der Anteil Liebe als auch der Anteil Komödie im finnischen Kontext zu betrachten sind. Also alles wortkarg und melancholisch, aber mit einem bitterbösen Humor, unvorhersehbarer Handlung, wunderschönen Bildern und passend eingesetzten finnischen Schlagern. Ein typischer Kaurismäki mithin, mit erweitertem Spektrum.
Die Handlung ist eigentlich schnell erzählt: Die Supermarktmitarbeiterin Ansa und der Arbeiter Holappa begegnen sich zufällig in Helsinki in einer Karaoke-Bar und treffen sich ebenso zufällig nach ihrer jeweiligen Kündigung erneut. Sie gehen zusammen ins Kino und beschließen, sich wiederzusehen, doch verliert Holappa den Zettel mit Ansas Telefonnummer. Die dritte zufällige Begegnung initiieren beide unabhängig voneinander vor dem Kino, doch als es dann endlich zum Treffen kommt, zerbricht die junge Liebe an Holappas Alkoholismus. Der daraufhin sein Leben umkrempelt und es zur nächsten Begegnung nicht kommen lassen kann, weil er seine Unterkunft zu unvorsichtig verlässt. Abermals hilft den beiden der Zufall.
Es ist herrlich anzusehen, wie Kaurismäki seine Figuren eindrucksvoll und explizit inszeniert, auch Nebenfiguren, etwa Barkeeperinnen, Wachmänner oder Karaoke-Sänger. Jede Szene hat ihr eigenes Design, ein Spiel aus Farben sowie Licht und Schatten, und jedes Bild könnte man sich eingerahmt übers Sofa hängen. Zwar ist „Fallende Blätter“ offenkundig nicht mehr in Technicolor gedreht, doch behält Kaurismäki seine tiefe Farbgebung bei, dazu monochrome Kleidung, Wände, Möbel. Dazu spielt er mit Lichtführung und gibt den Bildern damit noch mehr Dimension, trotz aller Leere gibt es viel zu entdecken. Zudem wähnt man sich fortwährend in den Sechzigern, was die Ausstattung betrifft, bis so etwas wie ein Laptop oder ein Handy ins Spiel kommen. Und der Angriffskrieg der Russen, direkten Grenznachbarn der Finnen, gegen die Ukraine, über den permanent im Röhrenradio zu hören ist. In dem gelegentlich auch Musik läuft, ebenso in den Bars, in denen Holappa sich ungesund gern aufhält, und Kaurismäki setzt die jeweils laufenden Schlager stets so ein, dass deren Text die Gemütslage der Protagonisten wiederspiegelt.
Wie immer hat Kaurismäki ein großes Herz für Menschen am Rande der Gesellschaft, sie alle bettet er in den Film ein, nicht zwingend handlungsrelevant, aber wer das Werk des Regisseurs kennt, erkennt die Symbole. Die Flüchtlinge in der Arbeitsunterkunft etwa sind ein Link zu „Die andere Seite der Hoffnung“, die Gestalten in den Bars zu „Das Leben der Bohème“, die deprimiert auftretende Liveband Maustetytöt könnte den „Leningrad Cowboys“ nachfolgen. Hier konzentriert er sich auf Arbeitende, die ausgebeutet werden und ihre Wege suchen, sich trotzdem ein Stück vom Glück zu nehmen; Ansa lässt abgelaufene Lebensmittel mitgehen und Holappa trinkt heimlich, was für beide ja alsbald die jeweilige Kündigung bedeutet. Das System hat kein Mitleid, doch lässt Kaurismäki die Gesellschaft ins Ansas Fall solidarisch sein, indem ihre beiden Kolleginnen mit ihr den Supermarkt verlassen und den denunzierenden Wachmann und den Geschäftsführer allein zurücklassen. Der Wachmann verteidigt sich, er habe nur seinen Job gemacht, und Ansa entgegnet: „Du wirst es noch weit bringen.“
Knappe, aber treffsichere Dialoge wie dieser durchziehen den gesamten Film. Es bedarf nicht vieler Worte, was dem Finnen ja ohnehin ein Gräuel ist – „Du redest zu viel“, sagt Holappa seinem aufschneiderischen Kollegen –, um teilweise richtig bösartige Schlagabtausche loszulassen, und es ist immer witzig, was man zu hören bekommt. „Du bist vier Minuten zu spät, das ist schon das dritte Mal diese Woche, das kann ich nicht mehr durchgehen lassen“, sagt der Chef zu Holappa, der verwundert guckt: „Aber heute ist Montag?!“ Oder als er sich im Armenhaus von einem Mitbewohner ein Jackett leiht und der auf den Hinweis hin, dass es für ein Treffen mit einer Frau ist, sagt: „Die muss es ja nötig haben“ – und dann allein und einsam zurückbleibt. Dezidiert gesetzter absurder Humor durchzieht Kaurismäkis Filmschaffen, hier bildet er den Hauptteil der Dialoge. Und sonstigen Beiträge, als Ansa und Holappa „The Dead Don’t Die“ von Kaurismäkis Freund Jim Jarmusch im Kino gucken – die überfällige Retourkutsche für dessen Kaurismäki-Hommage in „Night On Earth“ – und danach den Saal verlassen, begegnen sich draußen zwei Männer, die Vergleiche zu Bresson und Godard ziehen, und das derartig hölzern inszeniert, dass es dadurch doppelt lustig ist, besonders, wenn man erkennt, dass im zweiten Saal tatsächlich ein französischer Film läuft und die beiden vermutlich nicht den Jarmusch sahen.
Details wie dieses versteckt Kaurismäki zahllose in seinem Film. Als etwa Holappa erstmals bei Ansa zu Abend ist, sitzen sie sich am Tisch gegenüber. Die Vorhänge hinter den beiden haben unterschiedliche Farben – und zwar jeweils die der Oberbekleidung des Gegenübers. Als sich Ansa später mit einer Freundin trifft, bricht Kaurismäki bei der Getränkefarbe mit dieser Symmetrie. Bisweilen bricht er außerdem mit den Zuschauererwartungen: Als beide Hauptfiguren ihre Jobs verlieren und sich neue suchen, bekommt man eine Fabrikanlage mit schwerem Gerät zu gezeigt – und dann sieht man, dass nicht etwa Holappa dort untergekommen ist, sondern Ansa die großen Werkstücke bewegt. Der unbenannte Hund bekommt analog zu den vielen im Film verteilten Kinoplakaten zuletzt den Namen Chaplin. Und ist der eine Zuschauer bei dem Konzert nicht doch der leibhaftige Iggy Pop? Unwahrscheinlich ist dies nicht, über die Brücke des gemeinsamen Freundes Jim Jarmusch.
Bei einem anderen New Yorker, Paul Auster nämlich, borgt sich Kaurismäki die Erzählstruktur aus, die von Zufällen geprägt ist. Der Verlauf der Geschichte ist in ausnehmend vielen Aspekten unvorhersehbar, auch wenn man die Kehrtwende des Trinkers alsbald in eine gewisse Richtung entwickelt vorherdenken kann. Ebenso unvorhersehbar und damit treffsicher sind entsprechend die Gags, trotz der ernsten Botschaften. Bei der Ernsthaftigkeit vermeidet Kaurismäki übrigens vordergründige Gewalt, ganz wie bei Dogme95 gelernt: Die Schlägerei des Drogendealers mit der Polizei und den Verkehrsunfall bekommt man lediglich aus dem Off zu hören.
Nachdem Kaurismäkis Lieblingsdarsteller Matti Pellonpää bereits 1995 verstarb, beließ er wenigstens seine Lieblingsdarstellerin Kati Outinen in seinen Filmen präsent. In diesem, auf Deutsch nicht „Tote“, sondern „Fallende Blätter“ genannt, fehlt sie jedoch, in Kaurismäkis Film davor, „Die andere Seite der Hoffnung“ aus dem Jahr 2017, war sie noch dabei. Schlechter wird dieser Film dadurch nicht: ein echter Kaurismäki, in allen Aspekten herausragend, herrlich trocken, karg, melancholisch, warmherzig, ansehnlich und lustig. Wie gut, dass er seine Drohung bisher noch nicht wahrmachte und wirklich mit dem Filmdrehen aufhörte.