Von Guido Dörheide (12.09.2023)
Letztes Wochenende war Papa-Tochter-Wochenende. Also bin ich am Sonnabend mit meiner Jüngsten mit dem Fahrzeug in die Schlossattrappe gefahren – die Tochter sollte nicht zu weit zu Fuß gehen müssen, immerhin wollten wir am Nachmittag noch das Magnifest besuchen.
Wir stellten also den Wagen ins zweite Parkdeck (das mit dem gegenüber dem ersten Parkdeck spiegelverkehrten Einbahnstraßen) und gingen erstmal zu Thalia. Töchterchen sollte sich dort eine DVD aussuchen, aber so weit kamen wir nicht: Vor dem Regal mit den Braunschweig-Krimis gab es Tumult. Augenscheinlich waren sich zwei Herren im fortgeschrittenen Alter in die Haare geraten, herrschten sich an, alsbald ergab sich ein Handgemenge.
Das wollten wir uns aus der Nähe ansehen, also pirschten die Tochter und ich uns vorsichtig an den Ort des Geschehens heran. Da stand, mit wirrem Haar und den Revolver im Anschlag, ein Autor und knurrte: „Gib mir mein Buuuuuuch zurrrück!!!“
Der Angeknurrte war in eine Lederjacke gewandet, die in interessantem Kontrast zu seiner kurzen Hose stand, schaute seinen Kontrahenten grimmig an und zerrte an einem Buch, das der andere nicht hergeben wollte. Aus den Händen des Lederjackentragenden wuchsen jeweils drei lange, metallene Klingen und das Gesicht des Mannes zierte ein eindrucksvoller Backenbart. Nicht wie bei sagen wir mal Kaiser Wilhelm oder Lemmy Kilmister, sondern… ach Du Scheiße! Wolverine!
Mich noch fragend, ob ich das eben Gesehene eben tatsächlich gesehen hatte, zog ich die fragend dreinblickende Achtjährige hinter mir her auf den Platz vor dem Residenzschloss, den mit den Reiterstandbildern, auf deren Sockeln zum Leidwesen der Tochter nicht vermerkt ist, wie alt die beiden Pferde geworden sind.
Um der strebsamen Grundschülerin mal den Unterschied zwischen der großen Filiale einer namhaften Buchhandlungskette aus dem Heimatort der einst von mir besuchten Fern-Hochschule und einer kleinen und dementsprechend feinen Traditionsbuchhandlung mit weit über 100jähriger Geschichte vor Augen zu führen, schleifte ich sie zu Benno Goeritz in der Breiten Straße, einer Straße, die alles Mögliche ist, nur nicht breit. Vielleicht hat sie den Namen von der humanistischen Bildungsanstalt eine Ecke weiter, deren Schüler alljährlich zur Feier ihres Reifezeugnisses dem Namen der Straße alle Ehre machen.
Die Buchhandlung Benno Goeritz ist von innen mit derselben Substanz beschichtet wie die Handtasche meiner wunderbaren und einzigartigen Liebsten: Beide, Handtasche und Buchhandlung, haben gemein, dass innen sehr viel mehr Dinge hineinpassen, als es das Äußere vermuten lässt. Die Tochter – von Haus aus mehr Cineastin denn Bücherwurm – sollte heute gelernt kriegen, woran man eine gut sortierte und liebevoll geführte Buchhandlung erkennt. Aber so weit kamen wir nicht: Vor dem Schaufenster hatte sich ein Triumvirat aus finster in die Gegend blickenden Desperados sortiert, das finster in die Gegend blickte.
Bevor wir auf dem Absatz kehrt machen konnten, wurden wir von Blicken durchbohrt, jedweder Fluchtgedanke wurde von einem „Denk nicht mal dran!“ im Ansatz vereitelt. Bereits beim flüchtigen Hinschauen erkannte ich den Autor und Wolverine, und auch den Herrn in der Mitte hatte ich schon mehrfach gesehen. Mutig folgten wir den beiden ins Innere des Geschäfts, wo sich die tumultativen Szenen aus der Thalia-Filiale auf wundersame Weise wiederholten. Würde denn dieses Pandämonium aus Buchgezerre, Geschrei, Gefauche und Handfeuerwaffengefuchtel niemals aufhören?
Da blickte ich einmal genauer auf das Buch, um das der Autor und der Comic-Held aufs Neue ein Gezerre und Gerangel veranstalteten, und merkte, dass es sich um eine der bemerkenswerteren Neuerscheinungen des laufenden Jahres handelte: „Der Flussmann“ von Hardy Crueger. Und da erkannte ich auch den Autor: Es war Crueger selbst, der dem Krallenmann sein eigenes Werk anscheinend nicht kampflos überlassen wollte.
Anscheinend? Nein: Scheinbar. In Wolverines Gesicht wurde die Grimmigkeit nach und nach durch fröhliches Strahlen abgelöst, der Roman ward Crueger kampflos überlassen und der Dritte im Bunde, den ich nun als Stefan Hallensleben, der mit Ehefrau Marianne und Tochter Sara Inhaber der Buchhandlung Benno Goeritz ist, erkannte, fing an, mit seinem Mobiltelefon Farbaufnahmen von den beiden liebenswert skurrilen Gestalten, die vor wenigen Augenblicken noch Streithähne zu sein schienen, zu machen.
Anscheinend (diesmal wirklich) war man versöhnt, und der Autor lud uns noch auf Kaffee, Tee und Wasser ins nahegelegene Café Emmelie am Eulenspiegelbrunnen (jahaa – direkt neben der legendären „Baßgeige“) ein, wo wir es uns auf diversen Sofata bequem machten und den Vormittag mit viel Geplapper Paroli laufen ließen.
Anschließend gingen Töchterchen und ich zurück zum Schloss, das wegen eines Feueralarms a) evakuiert und b) abgesperrt worden war. Vor der Tür standen Feuerwehrfahrzeuge und aus dem Parkdeck drang schwarzer Qualm. Hoffentlich nicht mein Auto, dachte ich. Ich hatte den kleinen roten Wagen erst vor wenigen Monaten erstanden, als Nachfolger des absolut identischen kleinen roten Wagens, den mir ein Reh auf der Bundesstraße vor Jembke gründlich ruiniert hatte. Aber Glück gehabt – das Feuer war an einer anderen Stelle des Parkdecks ausgebrochen, das kleine rote Auto war unversehrt, die Schranken waren geöffnet („Frei parken“ hieß das weiland beim Monopoly) und das Magnifest konnte kommen.
Am Nachmittag kam die Nachricht von Google Maps: „Braunschweiger Residenzschloss. Wie war es?“ Wäh? Was für ein Residenzschloss? Ach so, Dr. Hoffmann/Wolfgang Lazcny und so. Ja ja, Deine Mudda, war prima im Renitenzschloss, nur wir wären beinahe nicht mehr hineingekommen. Geschweige denn hinaus. Von dem Autor und dem Comic-Helden habe ich in meiner Google-Maps-Rezension nichts geschrieben, das habe ich mir für diese Stelle hier aufgehoben.
Für all diejenigen unter den Lesenden, deren Neugier jetzt geweckt wurde, habe ich hier noch einiges an Fakten, Daten & Gedöns beizusteuern:
Hardy Crueger, geboren in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Oldenburg (Oldb.), gehört zu den führenden und produktivsten Autoren in Braunschweig, wo er seit Jahren lebt und arbeitet. In der Krimiwerkstatt Braunschweig bietet er kriminelle Seminare für angehende Krimischreibende an, heuer geht dieses Projekt bereits in die 11. Staffel. Jedes Jahr zum Todes- oder Geburtstag des unvergessenen Wolfenbütteler Bibliothekars Gotthold Ephraim Lessing schlüpft er in dessen Rolle und erzählt Erstaunliches aus Lessings Leben – zuletzt am 22. Januar 2023 (Lessings 294. Geburtstag) in der KaufBar zu Braunschweig. Crueger (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Schauspieler, daher die geänderte Schreibweise des Nachnamens) hat Geschichte und Soziologie studiert und mittlerweile 13 Romane und 7 weitere Bücher veröffentlicht, hauptsächlich Thriller/Krimis, aber auch geschichtliche Romane und Kurzgeschichtenbände („Okergeschichten“, „Okergeschichten II“, „Braunschweig’sche Weihnacht“, „Braunschweig’sche Verbrechen“, letztere beide gemeinsam mit Till Burgwächter). Sein neuester Roman heißt „Der Flussmann“ und ist im Verlag CW Niemeyer erschienen. Wie so viele seiner Geschichten spielt „Der Flussmann“ in Braunschweig und um Braunschweig herum an der Oker.
Crueger ist außerdem Schöpfer des hannöversch/magdeburgischen Ermittlerduos Carsten Sanders/Mandy Colwicz, denen er in den Romanen „Die Stunde der Flammen“ und „Das Blutspiel“ ein Denkmal gesetzt hat, und vor allem ist er der Verfasser des großartigsten Katastrophenthrillers aller Zeiten: „Der Untergang“ handelt von einem sprengstoffinduzierten Tsunami, der vom Okerstausee aus bis weit in den Landkreis Gifhorn hinein alles Leben mit sich reißt und den Lesenden in nur knapp 50 Seiten denken macht, gerade einen minnichstens 700 Seiten starken Katastrophenthriller durchlebt zu haben.
Crueger versteht es wie nur wenige, lokale Schauplätze unaufgeregt und authentisch auftreten zu lassen und um diese herum Geschichten zu stricken, die die Lesenden gleichermaßen in den Bann ziehen und vor Grusel erschauern lassen. Zu zahlreichen Gelegenheiten – am Besten in der über Braunschweig hineinbrechenden Abenddämmerung an Bord eines Floßes der „OkerTour“ auf dem gleichnamigen Umflutgraben – können sich Literaturfans davon überzeugen, dass es kaum Besseres gibt, als beizugehen und Crueger selbst aus seinen Werken lesen zu hören. Teils mit verstellten Stimmen und immer mit wirrem Haar – seinem Markenzeichen.
Martin Hildebrandt, Jahrgang 1976, aus Lychen/Uckermark, ist Landschaftsgärtner, leidenschaftlicher Fahrradfahrer und Wolverine-Impersonator in Personalunion. Auf seinen Fahrradtouren in und um den Harz, teilweise verbunden mit gemeinnützigen Spendensammlungen, lernte er zahlreiche Autor/innen kennen (Helmut Exner, Roland Lange, Renate Riehemann, um nur ein paar zu nennen) und entdeckte dabei das neue Format „Sport & lesen“. Seitdem durchmisst Hildebrandt den Harz und die Umgebung mit dem Fahrrad und besucht dabei Literaten. Der singende Wolverine liest und fährt Fahrrad, sozusagen. Als begabter und überaus origineller Musiker („Lucky Logan“) sorgt er mit seiner Gitarre (oft begleitet durch Al Cajone am Cajon) dafür, dass Literaturlesungen das gewisse Etwas erfahren. He killed a Man in Wildemann, just to watch him die. Außerdem vermutete er, das sie Schierker trinken, and smokin’ big cigars. Meine Fahrt von CLZ nach Altenau war seitdem nie mehr das, was sie vorher war. Folsom Prison Blues meets Buntenbock, sozusagen.
Der singende Wolverine liest also (bzw. lässt lesen und spuit die Musi dazua) und fährt Fahrrad. Und wie kam es zu dem Wolverine-Outfit? Die Geschichte finde ich sehr groß: Hildebrandt hat vor Jahren Kirchenmusik gemacht und war für das exakte Wochenende nicht gebucht. Und hatte den Bart wild wachsen lassen. Dann kam der Anruf – Martin, kannst Du kurzfristig einspringen? Schnell rasiert, aber nur partiell – fertig war der Wolverine-Look und damit ein ganzes Geschäftsmodell.
Nach einem Fahrradunfall mit Knie kaputt – ausgerechnet in der Nähe von Pullmann City in Hesselfelde („Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses“, sage ich mal) musste Hildebrandt dann auf kürzere Fahrten umsatteln.
Aber alles ging sich irgendwie aus: Hildebrandt berappelte sich wieder und kann inzwischen wieder lange Fahrradtouren meistern wie kein anderer, hat als Fachlektor für Kriminalliteratur Fuß gefasst (seid gespannt auf Laura Windmanns („Mutti geht’s gut“) ersten Krimi), ist Mitglied bei Lyrik lebt e.V. in Osterode am Harz, wirkte an der jüngsten Anthologie des Harzer Literaturpreises mit und wird auch beim Mordsharzfestival 2023, an dem Hardy Crueger als Autor teilnimmt, zugegen sein.
Benno Goeritz in Braunschweig: Breite Straße 20, 38100 Braunschweig
https://www.thalia.de/buchhandlung/5809
Martin Hildebrandt auf Facebook
Und auf Instagram: https://www.instagram.com/lucky_logan