Von Guido Dörheide (07.08.2023)
„Alföld“ klingt ja irgendwie nach „Wackööööön!!!“ Hier ist aber nicht Alfeld/Leine nebst seiner im Bauhaus-Stil errichteten Grillkohlefabrik, sondern die ungarische Tiefebene gemeint. Und aus eben diesem Ungarn kommt Thy Catafalque. Quasi als ein Ein-Mann-Projekt von Tamás Kátai wurde Thy Catafalque 1998 in Ungarn gegründet, mittlerweile lebt Kátai in einer Stadt, die ich jüngst im vergangenen Jahr trotz aller Sabotageversuche durch Deutsche Bahn bereiste, nämlich in Edinburgh. Und das hört man. Aber erstmal eins nach dem anderen – first things first.
Kátai bezeichnet seine Musik als „Avantgarde Metal“, und wie wir wissen, ist Avantgarde ein anderes Wort für Progressive oder für Post (jahaa – nicht nur Dalsey, Hillblom & Lynn ist ein anderes Wort für Post). Bei Kátai bezieht sich die Avantgarde oder die Post am Ehesten auf den Black Metal. Und so wird „Alföld“ allerorten als Rückkehr zu ebendiesem Black Metal gefeiert, nachdem sich Thy Catafalque in den letzten Jahren eher davon entfernt und viel melodischen Folk-Metal machte. Zuletzt konnten sich die Zuhörenden davon auf dem Live-Album „Mezolit“ überzeugen, das mit gefühlt 125 weiteren Musikern, vorwiegend singend, gitarrespielend, trommelnd und am Cello, eingespielt wurde. Was manchmal – aber eben nur manchmal – ob seiner Melodizität für meine Augen nach Dschinghis Khan klang. Nichts gegen Dschinghis Khan, und auch der dort (neben, hüstel hüstel, Ralph Siegel) tonangebende László Mándoki ist ja Ungar, was den Kreis hier wieder schließt. Aber das nur am Rande.
Ich jedenfalls begrüße den vermeintlichen Rückfall in den Black Metal der frühen Tage von Thy Catafalque auf das Entschiedendste, zumal er meines Erachtens auch gar nicht in dem beschrieenen Ausmaß stattfindet: Mit „A csend hegyei“ („Die Berge der Stille“) beginnt „Alföld“ tatsächlich sehr black-metal-angehaucht, aber was das hier von dem da abhebt, ist der Sound: „Alföld“ kommt nicht blackmetallig-scheppernd daher, sondern wuchtig und donnernd mit einem Schlagzeug, das man beim Autofahren in den Armlehnen (Außen in den Türen. In Autos mit Mittelarmlehne wird kein Black Metal gespielt. Niemals.) spürt. Liebe Lesende, stellen Sie sich mal beispielsweise 90er-Jahre-Darkthrone mit basslastigem Sound und donnerndem Schlagzeug vor! Blasphemie oder Paradies? Entscheiden Sie selber, ich höre mal lieber das Album weiter an. Das mit „Testen túl“ („Jenseits des Körpers“ – Wehe, www.deepl.com, Du lässt mich hier im Stich und die Songtitel lauten in Wirklichkeit „Mein Luftkissenfahrzeug ist voller Aale“ oder „Würden Sie bitte heftig meinen Popo streicheln?“) genauso weitergeht, wie es der Opener hoffen machen wollte. Auf „A földdel egyenlo“ („Auf gleicher Höhe mit dem Boden“) wird es dann schneller, kratziger und krachiger. Immer noch zu viel Basslastigkeit, um authentisch nach 90er-Black-Metal zu klingen, aber das ist auch wirklich gut so: Das Stück lebt davon, dass es wuchtig und basslastig daherkommt, und ist gleichsam ein Fest für alle, die Black Metal lieben. Dazu trägt zu einem nicht geringem Teil der krächzende Gesang Kátais bei, der aber dabei niemals beliebig klingt, sondern immer wiedererkennbar bleibt. Und immer dann, wenn die Hörenden befürchten, jetzt könnte ein Song in (zugegebenermaßen basslastigem und wuchtigem) Geschrammel und Gekrächze ausgehen, spielt Kátai Synthesizermelodien ein, die das Herz erwärmen und wunderbar darauf vorbereiten, dass der Song danach in (zugegebenermaßen basslastigen und wuchtigem) Geschrammel und Gekrächze ausgeht.
Und das Beste ist: Nach den drei das Album eröffnenden melodischen Black-Metal-Krachern wird es wunderbar ruhig: Das ungefähr neuneinhalbminütige Titelstück des Albums beginnt mit schweren Powerchords, die zunächst von schrillem Fiepen durchbrochen und alsdann von bedrohlichem Schlagzeug vorangetrieben werden. Der dann folgende Gesang scheint direkt aus der Unterwelt zu kommen, und es ist eine Unterwelt voller Bass. Dann Gitarrensolo, dann ein wunderbar düsterer, mit Synthesizern unterlegter Instumentalteil, an dessen Ende der Bass beinahe funky tönt, und dann wieder ein Gitarrenriff, wie es simpler und zugleich wirkungsvoller nicht sein könnte. Wieso ist da vorher noch niemand drauf gekommen? Und das ist es, was mich an „Alföld“ so gefangen nimmt: Alle Zutaten sind lange bekannt, aber so zusammengemixt wirken sie auf mich völlig neu. Dann fängt Martina Veronika Horváth zu singen an, die Gitarre wird akustisch und ich frage mich, was das hier eigentlich sein soll. Auf jeden Fall kein Black Metal mehr und auch sonst eine mir bekannte Kategorie von Metal – einfach nur wunderschön. Das letzte Drittel des Songs ist ein weder innovatives noch erschreckendes, sondern einfach nur tolles und hier genauso hingehörendes Akustikgitarrensolo. Auf dem folgenden „Folyondár“ („Flusskuppel“, was auch immer das sein soll. Aber egal. Begrabt mein Hirn an der Kuppel vom Fluss.) werden der Verstärker und das Echogerät wieder eingeschaltet und dann ertönt eine Flöte. Immer im Wechsel mit der schrammelnden Gitarre – wundervoll. Gesang kommt hier nicht, das Stück ist ein Instrumental, auf dem Kátai deutlich macht, wo er wohnt. Anschließend ertönt ein Acapella-Gesang, dann eine warm schrammelnde Gitarre, die sich zu einem ebenso warmen Quietschen steigert, und ab eine Minute zwanzig wird gesungen, und zwar klar und schön und in keinster Weise blackmetallig. „Csillagot görgető“ („Den Stern rollen“) haut mich nicht so um wie die erste Hälfte der Platte, ist aber dennoch wunderschön. Zwei Minuten vor Ende wird der Bass wieder funky, das Schlagzeug greift das auf und die Gitarre klingt seehr gotisch, im Hintergrund wieder eine Flöte, dann ungarischer Sprechgesang und dann alles auf einmal. Das gefällt mir sehr.
Mit „A felkelo hold országa“ („Das Land des aufgehenden Mondes“) hält dann ein wenig Black’n’Roll Einzug. Der Gesang krächzt zunächst und dröhnt dann, insgesamt klingt das Stück aber zurückgenommen und weniger donnernd, als es die Melodie zuließe. „Szíriusz“ („Orion“, hätte ich jetzt fast geschrieben) ist kein Bass-, sondern ein Synth-Instrumental, und danach folgt das letzte Stück „Néma vermek“ („Stumme Takte“), keineswegs stumm, sondern düster-bedrohend-gotisch (Leute, die früher Fields Of The Nephilim gekauft haben, kauften auch das!), voll schöner Melodien und grunzenden Gesangs. Gegen Ende ein paar schöne Breaks, dann wieder der gröhlende Gesang, unterbrochen von einem melodischen synthesizer-unterlegten Gitarrensolo und toller Schlagzeugarbeit, danach wird wieder hymnisch gegröhlt – ein wunderbarer Abschluss für ein denkwürdiges Album.
Ich werde diese Schallplatte kaufen, auch wenn sie zerkratzt sein sollte.