Von Matthias Bosenick (17.07.2023)
Das ist Pech, wenn noch vor dem Beginn der Karriere gleich das erste auf Tape aufgenommene Album verschwindet und man erst mit dem zweiten Album debütieren kann. So wiederfuhr es Octopus, der Progrockband aus Frankfurt am Main, im Jahre 1974, knappe zwei Jahre nach Bandgründung. Immerhin wurde das Label Sky Records durch eine Kopie der Mondial-C60-Kassette auf die Band aufmerksam und nahm sie für drei ihrer vier Alben unter Vertrag. Sängerin Jennifer Kowa, damals Hensel, entdeckte das Tape 2022 unter einem Gewühl von Kassetten ihrer späteren Band The Radio wieder und überließ es Tom „The Perc“ Redecker zur Überarbeitung. Der veröffentlicht es nun als als Epilog nachgeschobenen Prolog der vier offiziellen Alben auf seinem Label Sireena, eben als „The Lost Tape“, und macht diese Mittsiebziger-BRD-Kraut-Prog-Perle fast 50 Jahre später wieder zugänglich.
Natürlich sind die sechs Tracks des Sextetts sehr in ihrer Zeit verhaftet. Der Progrock war damals erst gut fünf Jahre alt, blühte von England aus überall hin, verband sich in Deutschland mit dem heimischen und ungefähr gleichalten Krautrock und ergab Hybriden wie eben Octopus. Irgendwas mit Orgeln und Keyboards geht immer, ab und zu ein Tempowechsel mitten im Song, unendliche Längen, ausufernde Soli, etwas mit Klassik (hier: Domenico Zipoli), spannende Stop-And-Go-Breaks, gelegentliche Ausflüge in den groovenden Hardrock, alles, was ein Bier braucht, und doch ist es eher alkoholfrei. Noch fehlt bisweilen die Gärung beim Brauprozess, wenngleich die guten Zutaten vollständig vorhanden sind, also versierte Musiker und gute Ideen, mindestens. Doch Elemente wie drei Akkorde zum Dreivierteltakt hätten überarbeitet werden können, und dazu der Gesang, der seinerzeit zwar mit dem von Janis Joplin verglichen wurde, wie man offiziell nicht müde wird zu betonen (siehe „Rockröhre“), der aber in nicht wenigen Passagen so durchdringend ist, dass die Ohren die Fußnägel anweisen, hochzuklappen; in tieferen Tonlagen ist ihre Stimme aber ausgezeichnet.
Dennoch, „The Lost Tape“, das damals ja noch nicht lost war, als es Sky Records in die Finger bekam, war eben die Visitenkarte dafür, auf jenem Label drei Alben zu veröffentlichen, die den Weg fortsetzten. „The Boat Of Thoughts“ erschien dort 1977 und offenbarte den Reifeprozess, der seit dem ersten Tape erfolgte, hin zum kompositorisch attraktiveren Progrock. Im Folgejahr erschien „An Ocean Of Rocks“, auf dem allmählich etwas Kitsch Einzug hielt, 1980 noch das sich zusehends weiter anderen zeitgenössischen Stilen öffnende „Rubber Angel“, dann erfolgte ein Bruch, indem die Band 1981 ohne Jennifer Hensel, die derweil mit ihrem frischen Gatten Winfried „Win Kowa“ Kowallik die Gruppe The Radio aus der Taufe hob, das deutschsprachige Album „Hart am Rand“, mit dem in Bayern exkommunizierten Straps-Cover, auf dem Label Rockport herausbrachte und es lose, aber ungeschickt bis peinlich an der aufkeimenden Neuen Deutschen Welle anhängte.
Zur Besetzung bei den Aufnahmen des Tapes gehörten neben Jennifer Hensel: Gitarrist Peter „Pit“ Hensel, Bassist Claus D. Kniemeyer, Schlagzeuger Dieter-Paul Becke, Keyboarder Werner Littau sowie Hans-Paul Sattler mit Mellotron und Fender Rhodes. Schon auf dem offiziellen Debütalbum gab es erste Umbesetzungen, zum finalen Album waren von der Urbesetzung nur noch Kniemeyer und Littau dabei. Was danach dann alles passierte, füllt ganze Rocklexika; die Spuren führen – wir reden von Frankfurt am Main – bis hin zu Badesalz.
In jedem Falle ein Schätzchen, das Jennifer Kowa und Tom Redecker hier aufpolieren. Auf „The Lost Tape“ überzeugt unter anderem das Schlagzeug, das mit eingestreuten Wirbeln und einer songdienlichen, unaufdringlichen Spielweise den Unterbau liefert, auf dem Gitarre, Bass und Keyboard sowie Fender Rhodes und das damals seltene Mellotron ihren Job machten. Sechs Songs in 36 Minuten, länger als die Hälfte der offiziellen Alben von Octopus, viele zur Zeit passende, wundervolle Ideen, Kraut und Prog kombiniert, Bisschen King Crimson hier, Bisschen Deep Purple da, ein schönes Dokument, ein Museumsstück, zu dem man in jeder Hinsicht mit dem Kopf nicken kann – und das streckenweise trotz einiger Defizite besser ist als manches, was die Frankfurter unter dem verwechselbaren Namen Octopus danach herausbrachten.