Von Matthias Bosenick (13.07.2023)
Steile These: Die Swans sind die einzige Band der Erde, die jemals nach einer Reunion künstlerisch relevante Musik veröffentlichte. Und das, ohne sich an Zeitgeiste anzubiedern oder billig die Erwartungen der Altfans zu erfüllen (okay, so ganz ohne Selbstzitat kommt auch „The Beggar“ nicht aus). Für das neue – nun: Industrial-Indie-Rock-Drone? – Album mit zwei Stunden Spielzeit reduziert die um Bandkopf Michael Gira teilweise neu zusammengetrommelte Truppe den Lärm, aber nicht die Gewalt: Brutalität schwingt immer mit, und sei es nur durch Giras nachdrücklichen, fordernden Gesang oder enervierende fragmentarische Wiederholungen. Und bei jeder neu sich windenden Drehung denkt man nur: Geil, weiter so, nochmal, und bitte die nächste Runde rückwärts! Und die Swans erfüllen den Wunsch. Und ergänzen ihn durch: Schönheit.
Nur, wer weiß, wie schöne Musik geht, weiß auch, wie man sie sinnvoll dekonstruiert und neu zusammenfügt. Was dabei im Falle von „The Beggar“ herauskommt, ist für offene Geister wiederum schön, und mehr als das, es ist erfüllend, beseelend, erquickend, betörend, begeisternd, irremachend. Die meisten Stücke trägt allein schon Giras Gesang, der wie ein Prediger kurz vor dem Wahnsinn, aber hell erleuchtet seine Liturgie in die Gemeinde presst. Er singt, in seiner unnachahmlichen Art, klar, tief, durchdringend, fordernd, einnehmend. Er brüllt nicht, wenngleich die Musik dazu dies bisweilen erfordern könnte. Eher wird er noch lauter, noch durchdringender, aber kippt nicht ins Brüllen. Wer nicht schreit, hat Recht. Seine Melodien sind fragmentarisch und repetitiv, kurze bis mittellange Bruchstücke, die Strophe um Strophe ergeben, selten Refrains, wie eben bei einer Liturgie. Der Gothic-Pastor. Der indes komplett ohne Posen auskommt, bei ihm reicht der künstlerische Ausdruck vollkommen aus, um die Gemeinde zu verzücken.
Um im Klerikalen zu bleiben: Die Kapelle (Teekesselchen!), die zur Predigt die Musik liefert, ist bestens zusammengestellt. Man könnte glatt den Begriff kongenial anwenden, wäre er nicht so suboptimal wie der Begriff suboptimal. Die Swans heute bedienen sich dezidiert bei den Swans der zurückliegenden 40 Jahre, bei dem, was Gira und Gefolgsleute so kreierten, deuten es neu, spinnen es weiter, picken sich die Perlen heraus und generieren etwas, das den Kanon sinnvoll ergänzt und erweitert. Die Industrial-Wucht der ganz alten Alben dringt rudimentär durch, nicht so brutal wie damals, eher in der Monotonie manifestiert, in der die Elemente wiederholt aneinandergereiht die Songs ergeben, die im Grunde keine sind. Einen Anflug von Folklore wie im überraschend milden „The Burning World“ aus dem Jahr 1989 findet sich etwa darin wieder, dass hier gelegentlich die Lap Steel Guitar zum Blues erklingt; in Nashville dürfte der Cowboyhutträger Gira mit seinen Freunden dennoch eher stirnrunzelnd aufgenommen werden. Kinderstimmensamples wie 1992 auf „Love Of Life“ gibt’s hier ebenfalls einmal. Und auch wenn Jarboe die Wiederzusammenkunft der Swans nicht mitmachte, verzichtet Gira nicht auf weiblichen Gesang, der die betörendsten Chöre ergibt, während der Papst die Messe liest.
Es erstaunt, wie zurückgenommen die Band hier auf weiten Strecken agiert, man möchte sich glatt das Wort altersmilde verkneifen. Das Schlagzeug dezent, die Gitarren mild flirrend, der Bass dezent begleitend, dazu diverse eingestreute Elemente anderer Ursprünge, alles indes wie geloopt gespielt, aber beständig in Intensität und Zusammensetzung wechselnd, da muss man schon dranbleiben, sich den Tracks ausliefern, da kommt noch was, das bleibt nicht so, das geht nur still los, das steigert sich, wenn auch nur kurz, dann bricht doch mal der alte Industrial aus, meist kurz, oder dann lassen die Swans den Drone vom Stapel, wie kurz nach der Reunion, als der Lärm höher gewichtet war als der Song, nur dass sie den Lärm hier als Atmosphäre einsetzen, als Grundierung, als Hypnosemittel, nicht als Schädelspalter. So richtig die Leine locker lassen die Swans im einzigen nicht auf der Vinyl-Version enthaltenen Track „The Beggar Lover (Three)“, der beinahe eine Dreiviertelstunde lang ist und somit länger als die meisten ganzen Alben dieser Zeit, und der einen erbaulichen Ritt durch die Ideenwelt des Swans darstellt, mal der blanke Horror, mal himmlischer Wohlklang. Der Rest gestaltet sich zunächst eher ruhig und zurückgenommen, vorangetrieben durch Giras Gesang und dann ergänzt um die genannten Ausdrucksmittel. Man kann nur andächtig niederknien.
Zur Band gehören auf dem in Berlin aufgenommenen „The Beggar“ vorrangig Leute, die mit Gira bereits bei den Swans oder dem Interimsprojekt Angels Of Light involviert waren. Da ist der als Despot verschriene Gira sehr ausführlich, auf der Bandcamp-Seite zum Album listet er seine Mitmusiker detailliert auf. Natürlich ist Gira der Kopf, der die Songs ersann (und zunächst, wie so oft, als limitierte Fundraiser-Demo-Versionen mit dem Titel „Is There Really A Mind?“ veröffentlichte). Sein Hauptpartner ist seit 1989 der Berliner Kristof Hahn, der hier die diversen Gitarren in den Händen hat. Seit Ende der Neunziger ist Schlagzeuger Larry Mullins dabei, nicht zu verwechseln mit Larry Mullen Jr., dem Schlagzeuger von U2. Mullins lebt in Berlin, spielte mit Iggy Pop und ist hauptberuflich bei den Bad Seeds, hier ist er für alles Percussive sowie für Mellotron und Keyboards verantwortlich. Dana Schechter, ebenfalls Berlinerin, war schon bei den Angels Of Light und spielt hier Bass, Lap Steel, Keyboards und Piano. Bereits zur Kernband nach der Reunion gehörte der New Yorker Bassist, Gitarrist und Keyboarder Christopher Pradvica, den man noch von Xiu Xiu kennt. Gründungsmitglied der großartigen New Yorker Industrial-Indie-Band Cop Shoot Cop war Phil Puelo, der hier ebenfalls alles Percussive sowie Piano und exotische Windinstrumente hinzufügt. Später war er bei der Industrial-Supergroup (muss man so sagen) Human Impact, heute lebt er in Chicago. Ben Frost aus Reykjavík ergänzt die Band mit Gitarren, Synthies und Soundmanipulationen. Die beiden Ex-Swans-Musiker Paul Wallfisch und Norman Westberg sind zusätzliche willkommene Gäste.
Gesang liefern die Hauptmusiker zusätzlich alle, außerdem sind dafür Gäste dabei, nämlich Ex-Deine-Jugend-Sängerin Laura Carbone, Lucy Kruger sowie Michaels Ehefrau Jennifer Gira. Die übrigens 2014 auch fest zu ihrem Gatten hielt, als ihm die Songwriterin Larkin Grimm vorwarf, sie 2008 bei der Produktion ihres Albums „Parplar“ vergewaltigt zu haben. Die Eheleute wiesen die Vorwürfe ausdrücklich zurück, hernach verlief alles ohne Gerichtsvorladung oder andere Konsequenzen im Sande. Gira mag ein Despot sein, folgt man den Auslassungen früherer Mitmusiker, aber gottseidank offenbar kein Sexualstraftäter.
„The Beggar“ gilt als das 16. Studioalbum des Swans in 40 Jahren, aber der Fan und Sammler kann darüber nur irre kichern. Es gibt so viele Live-Alben, Fundraising-Demos, EPs, Singles, Bootlegs, Solo- und Nebenprojekte, Rereleases, die man ebenfalls alle braucht, weil sie alle gut sind, weil sie einzigartig sind, weil es so etwas wie die Swans nicht nochmal gibt, weil sie einem die Seele erst auspeitschen, zerlegen, zerschreddern und sie dann neu zusammengesetzt wohlduftend einbalsamieren. „The Beggar“ ist außerdem Giras Reaktion auf ausgefallene Konzerte und kulturellen Stillstand während der Corona-Pandemie; eigentlich waren die Swans einmal mehr längst Geschichte. Wie schön, dass dies nicht zutrifft. Lustig übrigens: Gira behauptet im Zusammenhang mit diesem Album, seine Lieblingsfarbe sei Pink. Das kann man hören, ja: Es ist nicht ganz so dunkel wie die Alben davor. Und trotzdem gnadenlos.
Und die These stimmt natürlich nicht, es gibt noch ein, zwei andere Bands, die nach dem Bruch gutes Zeug veröffentlichten. Aber die Swans sind schon eigen!