Von Matthias Bosenick (11.07.2023)
Tief in den Achtzigern verwurzelt ist das Quartett Les Longs Adieux aus Rom, das auf seinem Debütalbum „Piccolo Dizionario Di Parole Fraintese“ Goth Rock, New Wave und Post Punk zu einem tanzbaren Gruft-Retro-Album zusammenträgt. Kennt man alles schon, nur nicht auf Italienisch und mit einem Gesang, der so kraftvoll ist wie der von Keyboarderin Federica Garenna. Da dringt mehr Antonella Ruggiero von Matia Bazar durch als Siouxsie Sioux, so mit Vibrato und Nachdruck. Die Musik ihrer drei Mitspieler bedient elektronisch und analog die genannten Genres, eben mit einem italienischen Einschlag: Die mediterrane Sonne scheint, ja, nur scheint sie eher in Grautönen mit diversen irisierenden Effekten darin. Und der Gesang ist einfach mal der Knaller, der beraubt die Gruftmucke bei allen Stereotypen jeglicher Weinerlichkeit.
Musikalisch ist dies vorrangig ein Tribut an die Ursprünge von Gothic, Wave und Postpunk, mit allem, was man so kennt, die Gitarreneffekte wie in der Neuen Deutschen Welle, die Synthie-Bässe im Off-Beat, der Flanger bis zum Anschlag getreten, die Drums artifiziell, so muss das. Die Mehrheit der acht Songs ist von hohem Tempo, wie es damals auch eher üblich war, weil der aufgepeitschte Punk der Sache noch näher stand als die Lethargie, was dazu führt, dass die Tracks mehrheitlich energetisch und tanzbar sind. Heißt aber auch, dass man mit Blick in die eigene Sammlung zu dem Ergebnis kommen könnte, dass man dieses Album nicht auch noch braucht, weil man Musik dieser Art ja bereits besitzt; das Quartett selbst führt neben den frühen Litfiba aus Neapel, die man sich vermutlich eher noch erarbeiten müsste, Klassiker wie The Sound, The Cure, Siouxsie And The Banshees und PIL an, man könnte noch Xmal Deutschland, Malaria! oder Skeletal Family ergänzen, und die hat man als Genießer dieser Richtung sicherlich allesamt im Regal zu stehen. Wozu also ein Album dazutun, das dem Genre musikalisch eher huldigt als Neues hinzufügt?
Weil Les Longs Adieux das gut machen – und weil der Gesang den Unterschied ausmacht. Federica Garenna verleiht dieser Musik Ausdruck, Stärke, Drama und Theatralik, man sieht sie förmlich mit ausladenden Bewegungen und in den Nacken geworfenem Kopf ihre Texte intonieren. Zudem liegt dem Italienischen ohnehin immer etwas Kraftvolles inne, diese Sprache ist selbst schon Gesang, aber diese Inbrunst, die fesselt, der gibt man sich gern hin und die gibt der Musik die Note, die sie in dem Ausmaß bisher nicht hatte.
Als Folge der Corona-Lockdowns debütierten Les Longs Adieux 2021 noch als Duo, bestehend aus Federica Garenna, gelegentlich mit dem Zusatz Lee Querizia, und Gitarrist Frank Marrelli, mit dem Bon-Jovi-Cover „Runaway“, bündelten diesen und diverse weitere Coversongs als Compilation „Greetings From Moonlight“, schoben die EP „Il ritratto postumo“ nach, auf dem sich stilecht ein Italo Disco Remix ihres Songs „Riviera Waltz“ findet, sowie die Singles „Goodbye“, „1983“, „The Siren‘s Voice“ und „HIALA“, benannten sich 2022 für das Mini-Album „Veleni dalla corte del re“ in Il Lungo Addio um (heißt beides ungefähr „Der lange Abschied“) und holten sich schließlich für „Piccolo Dizionario Di Parole Fraintese“, „Das kleine Wörterbuch der missverstandenen Wörter“, unter dem ursprünglichen Bandnamen Les Longs
Adieux die Keyboarderin Alessandra „Trinity“ Bersiani und den Schlagzeuger Valerio Michetti dazu, beide Mitglieder des Künstlerkollektivs La Grazia Obliqua sowie bei Bands und Projekten wie Glareshift, Alchem, Double Dare, Fade 2 Grace, Submarine Silence, Flavio Ferri, +HUM:AN:IMA+, Il Ciclo Del Bethe oder Das Projekt.
Nun sind auch die beiden Gründenden keine unbeschriebenen Blätter. Federica Garenna war als Federica Albatross Mitglied der Seefahrer-Power-Metaler Sailing To Nowhere, sang bei Alessio Secondini Morelli’s Hyper-Urania mit und ist auf einer Kiss- und einer Ronnie-James-Dio-Tribute-Compilation vertreten. Frank Marrelli war bei den Bands This Void Inside, Savers und Way Out dabei und spielte auf dem Soundtrack des Films „Go Home – A Casa Loro“ mit (das ist der mit dem Nazi, der ausgerechnet in einer Flüchtlingsunterkunft Zuflucht vor einer Zombiapokalypse sucht). Ordentlich Potential also für diese gruftige Melange – kein Wunder, dass den vier Musikern zusammen so viele Ohrwürmer gelingen.