Von Onkel Rosebud / Manja Barthel
Die Welt besteht aus Dingen, die einen Namen haben. Doch wir alle wissen – da gibt es noch mehr. Für bestimmte Geschehnisse gibt es einfach keine Worte. Vielleicht brauchen zu wenige Menschen für ein und dieselbe Sache eine Bezeichnung, weil sie mit dieser Sache kaum oder nie in Verbindung kommen. So gibt es Worte, die irgendwann einmal erdacht und benutzt wurden, und dennoch weiß heute kaum noch jemand, dass sie existieren. „Nupturient“ zum Beispiel ist ein Wort in juristischen Texten, es beschreibt einen Heiratswilligen; „Nyktitropie“ ist die Schlafbewegung der Pflanzen und „kuranzen“ steht für schikanieren. Diese Worte verschwinden so nach und nach aus dem Duden.
Das Erleben von Dingen muss in einer Gruppe über einen längeren Zeitraum sehr speziell sein, sodass es irgendwann nützlich war, sich Wörter für solche gleich erfahrenen Sachverhalte auszudenken. So kann man in manchen Ländern etwas mit einem Wort ausdrücken, was man hier, in unserem Land, mit mehreren Worten beschreiben muss, auch wenn es Sachverhalte betreffen könnte, die man ebenso gut kennt. Im Englischen zum Beispiel gibt es das Wort „Serendipity“. Es bedeutet: „zufällig etwas entdecken, obwohl man etwas anderes gesucht hat“. Oder das Wort „Balter“ beschreibt, so zu tanzen, als ob niemand zusieht. In der Sprache der Inuit bedeutet „Iktsuarpok“ die Vorahnung, dass gleich jemand kommen wird. Es gibt Worte, die ein spezielles Licht beschreiben, zum Beispiel ist „Komorebi“ (japanisch) das Licht, das durch die Blätter der Bäume fällt, und „Mangata“ (schwedisch) das Licht des Mondes, das auf dem Wasser reflektiert wird.
Ich suche einen Namen für eine Art von Geschichte. Das Wort soll so was Ähnliches wie einen „Traum“ beschreiben. Wenn man träumt, erlebt man Geschichten, die man dann erzählen kann, wenn man das Glück hat, sich am Morgen noch zu erinnern. Ich meine eine Geschichte, die man nicht träumt, nicht im Film sieht oder im Theater, die man nicht liest oder erzählt bekommt. Ich meine keinen Tagtraum, kein Kopfkino, nicht das tagtägliche Gedankenkarussell und auch keine Geschichten erfinden, sondern ich meine „(hier würde jetzt das Wort stehen, was es noch nicht gibt)“. Das Wort beschreibt einen Ausflug in die ganz eigene innere Welt, mit all den Bildern, die einfach da wären. Die Gedanken steuern diese Welt an, und dann wartet man, was man zu sehen bekommt. Solche Geschichten sind fast wie Träume, aber man ist dabei hellwach.
Eine von solchen Geschichten erlebte ich am 9. August 2019. Eine Freundin nahm mich mit zu einem Konzert. Der US-amerikanische Musiker hieß Steev Kindwald. Er hatte verschiedene Instrumente dabei, die er auf seiner 25-jährigen Reise durch die Welt zu spielen lernte. Steev war ein drahtiger, kleiner Mann mit allerlei Schmuck am Kopf und an den Armen. Er rannte nervös von der Bühne zu den Technikern und fragte sie irgendetwas. Und kaum, dass sie geantwortet hatten, wuselte er schon zurück. Als dann alles zu stimmen schien, dachten alle, dass das Konzert beginnen würde. Doch dann hatte er doch noch eine Bitte. Er wollte, dass die Bühnenbeleuchtung aus ist. Nachdem der Techniker das Licht immer weiter etwas dämmte und Steev jedes Mal meinte, dass das noch nicht genug sei, drehte der Techniker das Licht schließlich doch ganz ab. Zu sehen war nur noch die Hintergrundbeleuchtung, die langsam von einer Farbe in eine andere Farbe waberte. Steev war nur noch als Umriss zu erkennen. Steev begann auf einer Doppelflöte zu spielen. Die Klänge waren ungewöhnlich, leicht monoton. Da es nun nichts weiter zu sehen gab, schloss ich die Augen und war bereit, mich auf die Musik einzulassen. Ich merkte, dass sich mein direkter Zugang zu einem bildhaften inneren Erlebnis öffnete. Ich begann zu „(hier würde jetzt das Verb von dem Wort stehen)“ und erlebte folgende Geschichte:
Ich stand vor einem Weizenfeld, das unter Wasser wuchs. Seine langen Halme waren biegsam und bewegten sich in der Strömung leicht hin und her. Das Feld teilte sich, sodass ein schmaler Weg bis ans andere Ufer frei wurde. An dieser Stelle teilte sich auch das Wasser. Ich ging wie durch einen gläsernen Gang durch das sich wogende Feld. Auf der anderen Seite erwarteten mich Tiere. Sie standen an einer Bucht, die zugleich auch eine Waldlichtung war. Sie standen im Kreis und in der Mitte brannte ein Feuer. Sie waren ganz still und bewegten sich kaum. Sie lauschten der Musik. Ich ging zuerst zu einem Bären und tippte ihn an. Er begann von innen heraus zu leuchten. Ich ging weiter zu einem Hirsch. Auch ihn tippte ich an und auch er begann zu leuchten. So berührte ich jedes Tier im Kreis, bis alle leuchteten. Dann trat eine Frau hinzu, die einen langen hellen Mantel trug, der an den Seiten fein bestickt war. Ihr langes Haar war zu einem Zopf geflochten und um die Stirn hatte sie ein Stofftuch gebunden, das ebenso fein bestickt war. Im Nacken war es mit Bändern zusammengebunden, deren Enden bis zum Saum des Mantels reichten. Sie lächelte mich an, streckte ihre Hand aus, bis ihre Fingerspitzen mich berührten. Ich fühlte eine wohlige Wärme und zugleich eine angenehme Frische. Ich fühlte mich herrlich klar. Dann kam auch aus meinem tiefsten Innern ganz langsam das Leuchten. Die Frau im Mantel begann ebenso zu leuchten. Wir reihten uns in den Kreis ein und lauschten der Musik.
Weiter geschah nichts, doch es war so reichhaltig, dass es das ganze Konzert über andauerte. Am Ende machte ich meine Augen wieder auf. Ich war überrascht, dass ich nicht müde war, sondern angenehm wach, so als hätte ich statt einem deftigen Mittagessen nur einen Salat gegessen und wäre nun nicht den Strapazen des Verdauens ausgeliefert. Ich fühlte mich erfrischt, als ob ich durch einen Fluss geschwommen wäre.
Ich freute mich über das Erlebnis, über diese Geschichte, und hätte meiner Freundin gerne erzählt, dass ich einen „(hier würde nun wieder das Wort stehen)“ hatte. Sie hätte mich dann gefragt, wie es war, und dann hätte ich es ihr erzählt, so wie man sich manchmal morgens von seinen Träumen berichtet. Ich wüsste gerne ein Wort für das Erleben solcher Geschichten, ein Wort, das irgendwie normal klingt und nicht wie eine meditative, tranceartige Erfahrung, das nicht nach einem Trip klingt, nach Vision, nach Halluzination oder nach der Ansteuerung der Anderswelt im Ritual eines Naturvolkes.
Diese Art von Geschichtenerleben fühlt sich völlig normal an. Im Prinzip ist es etwas ganz Gewöhnliches, da die verborgene Innenwelt bei jedem Menschen immer da ist. Normalerweise bemerken wir sie nur nicht, da wir ständig mit anderen Dingen beschäftigt sind, die unser Gehirn auf Trab halten. Diese Geschichten entstehen völlig spontan und sind erstaunlich klar und lebendig. Es gibt keinen gängigen Namen dafür, mit dem wir alltäglich umgehen könnten, ohne eine Hippieveranstaltung dahinter zu vermuten. Deswegen habe ich es mal mit einer Wortneuschöpfung versucht. Das Wort beschreibt: „Ich habe just eine seltsame Geschichte erlebt, die aus mir selbst kam, ohne dass ich geträumt habe“: „Justmär“. Bei Wikipedia würde dann zum Beispiel stehen: „Unter Justmär (aus lateinisch iūste für „gerade eben“ und althochdeutsch māre für „seltsame Geschichte“) versteht man das bewusste Entdecken von eigenen, inneren Geschichten. Durch andauernde Aufmerksamkeit entwickeln sich die Szenen von selbst. Justmären können manche Menschen problemlos, andere hingegen benötigen die Hilfe von übenden Verfahren zur Verringerung körperlicher und geistiger Anspannung. Die meisten Menschen benutzen ein Einstiegsbild, was mittels der Vorstellungskraft erzeugt wird.
P.S.: Dieser Text erschien zuerst im Buch „Various Artists – Ich Liebe Musik Vol. 2“ (2020, Windlust Verlag) und wurde von Manja Barthel über den Song „Mountain Mist“ von Steev Kindwald geschrieben.