Von Matthias Bosenick (16.05.2023)
Nach zehn Jahren als Jazz-Duo treten Leagus aus Nordnorwegen jetzt mit Orchester in Erscheinung, besser: mit dem Nordnorsk Jazzensemble, für das das Duo eigens das Stück „Flora Eallin“ komponierte und damit auf Tour ging. Jetzt gibt’s die Studioversion davon als Album, und das offenbart, wie intensiv das Duo an der Komposition arbeitete: Mit entspannt stiller Musik leitet das Album die Hörerschaft in ein Universum aus Opulenz und Leere, aus Harmonie und Improvisation, aus Wohlklang und Lärm, aus Ambient und Kakophonie, aus Moderne und Tradition.
Mit einem leisen Pianostück, das elektronisch unterfüttert ist, startet das Ensemble die Reise. Ein langsames, warmes saxophondominiertes Bigbandstück folgt. Das nächste wartet mit elektronischem Kratzen auf, das erinnert an Sigur Rós in ihrer experimentellen Phase, das nächste überrascht mit Duettgesang – und erst danach startet das Ensemble das wohldosierte Chaos. Man wird also langsam in den Strudel hineingezogen, hat ordentlich Zeit, sich einzugrooven, und wird auch gar nicht mit Chaos zugeworfen, sondern punktuell und beinahe warm damit versorgt, inmitten eines Meeres von Ruhe. Für den sogar eher zugänglichen Rausch lassen sich die Musiker immer genug Raum.
Dieser Rausch ist dem Modern Jazz entnommen, mit Klavier und Saxophon, klackerndem treibendem Schlagzeug, teils elektronischer Grundierung, und sobald die experimentellen Elemente losbrechen, feiert das Ensemble den gepflegten Tröt. Etwas Miles Davis kann man gelegentlich heraushören, in den schönen, dunklen Passagen, in „Hyperion“ auch mal einen Tom Waits in einem Kirmesmoment kombiniert mit der groovigen Filmmusik von Lalo Schifrin, auch erkennt man das Moderne von The Thing wieder, deren Saxophonausbrüche hier einen Widerhall finden. „Mykorrhyza“ hat mit seinem Gesang sogar etwas von Folklore, das erinnert auch an Lisa Gerrard von Dead Can Dance. An einer Stelle, in „Pripyat“, wird es dann sogar viel zu modern: Wenn die Stimme, die zu einem Piano-Industrial ertönt, durch einen Vocoder gejagt wird – das nervt. Das ist aber, und das auf einer Freejazz-Platte, wohlgemerkt, der einzige nervige Aspekt.
Die Info verrät, dass Leagus aus Sápmi kommen – damit ist der Siedlungsbereich der Samen in Nordnorwegen gemeint, also keine genaue Stadt. Pianistin Herborg Rundberg und Gitarrist Kristian Svalestad Olstad gründeten Leagus 2013 als Abschlussarbeit eines Kurses für Rhythmische Musik an der Universität Tromsø.am Musikkonservatoriet. Olestad spielt auch in und mit anderen Ensembles, darunter Arktisk Takt, Orrestimmie, Petter Carlsen oder Mørk, und Rundberg war Mitglied bei Mara & The Inner Strangeness und The BonBons und ist ebenfalls aktiv bei anderen, darunter Sverre Gjørvad, den beide Leagus-Mitglieder unterstützten. Unter diesem Namen veröffentlichte das Duo vorher schon zwei Alben, „Naimaka“ 2019 und „Lea Áigi“ 2016. Vom Nordnorsk Jazzensemble auf „Flora Eallin“ dabei sind Bassistin Marianne Halmrast, die Schlagzeuger Arnfinn Bergrabb und Christer Jørgensen, die Vokalisten Elina Waage Mikalsen und Frode Larsen sowie die Saxophonisten Fred Glesnes, Sondre A. Kleven und Ola Asdahl Rokkones. Die Texte sind offenbar in der Sprache der Samen verfasst.