Von Guido Dörheide (05.05.2023)
Wer, wie ich, in den 80ern im Westen aufgewachsen ist, kennt Shakin‘ Stevens aus seiner Kindheit, als er (also Shakin‘ Stevens, nicht ich) mehr Platten verkaufte als die Beatles (was kaum Wunder nimmt, denn damals gab es die Beatles seit über zehn Jahren nicht mehr, Shakin‘ Stevens hingegen umso mehr) und hat ihn zehn Jahre später, als sein (also mein) Musikgeschmack gebildet wurde, nicht vermisst und ihn höchstens mal abschätzig als „Schüttel-Stefan“, ein vergessenes Relikt aus längst verblichenen Erinnerungen an die Kindertage, geschmäht. Inzwischen liebe ich es, guilty pleasures anzuhäufen und Leute wie Lindenberg, Collins und Sting gut zu finden. Und ja, verdammt, ich habe das Alter erreicht, in dem ich das nicht nur darf, sondern beinahe schon muss. Nun also auch (und jetzt wird es Zeit für die Nennung des bürgerlichen Namens) Michael Barrat, mit den elastischen Beinen. Barrat ist kein Brite und kein Engländer, sondern Waliser, was mir damals herzlich egal war – von Tom Jones hatte ich nie gehört –, geboren 1948, nur ein gutes Jahr nach meinem Vater, und zur Zeit seiner ersten Karriere alles andere als ein Jungspund: Als er das noch war, spielte er bei „Shakin‘ Stevens and the Sunsets“ und trat sogar im Vorprogramm von den Rolling Stones (bekannt & beliebt durch den bekannten & beliebten Gassenhauer „The Under Assistant West Coast Promotion Man“) auf. Ab 1980 und schon ein Stück älter als 30 war er als Solokünstler dann ständiger Gast in den Charts. Mein Vater kaufte damals einen Volkswagen Golf I GLS in Indianerrot metallic, was ich ebenfalls toll fand. Leider sind beide schlecht gealtert: Beinahe alle Ier-Gölfe sind komplett weggerostet (hihi, also alle jetzt unfreiwillig indianerrot) und Shakin‘ Stevens ist komplett vergessen. Warum? Beim Golf ist mir das egal (notfalls hat Papa Schuld), aber Shakin‘ Stevens hat derlei Vergessen sicher nicht verdient: Ich habe nochmal in seine alten Hits wie „Marie Marie“ (1981) reingehört und musste feststellen, dass mir das heute noch taugt, auch wenn es mir damals (von sagen wir mal 1987 aus) rückblickend peinlich war, jemals was anderes als The Cure gehört zu haben. So, nun aber hier Exkurs Nostalgie Ende.
Shakin‘ Stevens hat also ein neues Album gemacht, und dessen Cover gefällt mir: Es zeigt Shakin‘ Stevens vor einer Bergkulisse, gewandet in schwarz, mit Weste, Gehrock und einem herunterschlabbernden blauen Schal, der wie ein Schlips um den Hals des Barden gebunden ist. Shakin‘ Stevens trägt eine Kurzhaarfrisur, eine Strähne seiner dunklen Haare hängt in die Stirn, er ist schlank, trägt eine getönte Brille und schaut mit ernstem Blick in die Kamera. Ich finde, dass das sympathisch wirkt, und möchte mir gerne die Musik auf dem Album anhören, was ich auch sofort tue. Gleich beim ersten Stück – „George“ – fällt mir auf, dass ich mit Shakin‘ Stevens keine bestimmte markante Stimme verbinde und mich das ein wenig schneidend klingende, helle, ob des Alters leicht brüchig klingende Organ gleichermaßen überrascht wie begeistert. Der Text handelt von Stevens‘ Onkel, der 30 Jahre, bevor dieser geboren wurde, starb, lange Jahre in Nervenheilanstalten verbrachte und – so die immer wieder auftauchende Zeile in diesem Stück – niemals vergessen sein wird.
Auf „Not In Real Life“ erhöht Stevens die Lautstärke und ich beginne, diese Stimme sehr gerne zu mögen. Dazu ertönt erwachsenenorientierter Rock, der gekonnt dargeboten wird, nicht spektakulär, nicht langweilig, sagen wir mal für Fans von sagen wir mal mindestens Tom Petty. In dem Stück beschreibt Stevens eine Welt, die sich verändert, die verrückt ist, und am Ende jeder zweiten Strophe fragt sich der Erzähler, ob das Gestern angesichts der Zukunft wohl eine Lüge sein mag.
Das dritte Stück, „It All Comes Around“, stellt seine Vorgänger musikalisch nochmal in den Schatten, dieses rhythmusorientierte Stück Americana-Rock passt hervorragend zu Stevens‘ Stimme, anstelle einer Gitarre soliert die Mundharmonika, und das Ganze klingt trotz aller innewohnenden Energie sowas von laid back, dass man sich als Hörer:in sofort eine Jam Session von Stevens zusammen mit dem leider inzwischen verstorbenen JJ Cale wünscht. Und fürwahr: An dessen unaufgeregte Spektakularität erinnert mich „Re-Set“ sehr oft, beispielsweise gleich auf dem folgenden Stück „MAY“ – in meinen Augen dem apseluten Hit des Albums. Hallende Gitarren, wie sie nicht besser in einen Italo-Western passen würden, bestimmen das Stück, Stevens singt voller Hingebung, man erwartet, dass es jederzeit losdonnert, aber dass tut es nicht. Zumindest nicht instrumental. Stevens hingegen gibt zwischenzeitlich alles, singt die Instrumente an die Wand und stellt unter Beweis, dass man es hier mit einem wahrhaft jahrzehntelang unterschätzten Vokalakrobaten zu tun hat.
Auf dem folgenden „All You Need Is Greed“ setzt sich das fort: Eine schrammelnde Gitarre leitet das Stück ein, Stevens stimmt ein, dann Schlagzeug, dann alles zusammen und wow – Gänsehaut ob der ganzen Energie, die durch einen Chorgesang im Refrain noch verstärkt wird. Greeed is all you neeeeheeehheeeeeeheehed, ooooohoohhoooohoooo. Und es klingt nicht kitschig, sondern bedrohlich ernst, wie sich Stevens mit einer Welt auseinandersetzt, die von Gier und Profitsucht geprägt ist.
Mit der Zerstörung unseres Planeten setzt sich Stevens auch in dem folgenden Song, „Tick Tock“, auseinander – hier schreit Mr. Stevens fast, die Melodie nimmt mich gefangen und auf der Hälfte des Stücks ertönt ein Saxofon-Solo, das das heisere Geschrei des Sängers aufgreift und bestens ergänzt. Das anschließende „Beyond The Illusion“ ist ein Folksong, auf dem Stevens die Stärken seiner Stimme voll ausspielen kann und der sich bestimmt auch nur mit Gitarre und Gesang toll anhören würde. Der Text handelt von Flüchtlingen, die über das Meer einer besseren Zukunft entgegenstreben und dabei ertrinken. Und während ich noch daran denke, ertönt „Hard Learned Lesson“, Gitarre, Bass und Schlagzeug janglen recht hart vor sich hin, Stevens röhrt, Bluesfolkrock in höchster Vollendung und der Text beschwört eine gruselige Dystopie herauf. „Dirty Water“ ist dann ein Ausflug in den elektrischen Blues, inklusive starker Frauenstimmen beim Backgroundgesang und einer kreischenden Gitarre, die sich mit einer eindrucksvollen Bläsersektion abwechselt. Auch hier wird das Album nicht fröhlicher, die Protagonistin des Stücks träumt von einem schönen Leben, die Träume verwirklichen sich nicht, stattdessen kommt sie so richtig unter die Räder und geht schließlich trinkend zugrunde.
Eine halbe Stunde ist noch nicht ganz um (so langsam reicht es ja auch an Lebensverneinung, oder?), dann beginnt schon das letzte Stück, das Titelstück. Und was für eins: Ich mag die Melodie, der Gesang ist wieder einmal mehr unglaublich energiegeladen (Stevens ruft hier dazu auf, das Ruder herumzureißen, nicht zu verzweifeln und, ja, letzten Endes die Welt zu retten. Und da klingt aus seinem Mund nicht mal dämlich.) und Gitarre, Bass und Schlagzeug verströmen eine Wärme, dass ich mir wünsche, dass Album könnte noch ewig weitergehen. Leider ist es nach gut 32 Minuten zuende, und dass ist auch schon der einzige Kritikpunkt.