Von Matthias Bosenick (20.02.2023)
In den Geschichten, die Sir Arthur Conan Doyle den etwas unbedarften Ex-Armeearzt Dr. John Watson von seinem Mitbewohner und Freund, dem allwissenden Deduktionsgott Sherlock Holmes, ab 1887 erzählen ließ, nahm der Ich-Erzähler die Rolle des überraschten Lesenden ein, der neben dem Ermittler die wirrsten Mordknoten betrachtete und durch Watsons Augen staunte, wie der Meisterdetektiv sie sämtlichst entwirrte und die Täter überführte. Was in Holmes‘ Schädel nun so vorgeht, während er sich mit den Problemen anderer Leute auseinandersetzt, imaginiert das Autoren- und Zeichner-Duo Cyril Liéron und Benoît Dahan in Graphic-Novel-Form. Dabei ist „Im Kopf von Sherlock Holmes“ mehr als nur eine weitere Holmes-Pastiche, nämlich ein zeichnerisches Abenteuer, in dem man sich Seite um Seite vom großen Ganzen bis zum kleinsten Strich verlieren kann – und auch noch einen spannenden Fall erzählt bekommt.
Holmes ist ein wandelndes Wikipedia: Stürzt eine Flut von Informationen auf ihn ein, sortiert und seziert er diese, bringt sie in die korrekte Reihenfolge und gleicht sie mit seinen Erfahrungen und seinem Wissen ab. Die dem zugrundeliegende Recherchearbeit nimmt ihm naturgemäß stets der jeweilige Autor ab, der selbstredend deutlich mehr Zeit hat, den Fall aufs Mosaiksteinchen genau vorzubereiten, als es ein Detektiv in Echtzeit mit dessen Lösung hätte, und so ist jede dieser kriminellen Geschichten eine Leistungsschau des Autoren, der nur gekonnt genug fabulieren und lückenlos recherchieren muss, um überzeugend zu fesseln. Hier begleiten wir also Liéron und Dahan dabei, wie sie Holmes „Das Rätsel der skandalösen Eintrittskarte“, so der etwas an MAD-Cartoons erinnernde deutsche Untertitel des Buches, punktgenau und logisch knacken lassen. Mit Action auch noch!
Die beiden Autoren türmen hier eine wahre Flut an Informationen auf: Das London zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts stellen sie in Straßenkarten und Hausfassaden spürbar realistisch dar, wissen um gesellschaftliche Gepflogenheiten der Zeit, um Berufe, Stand der Technik, Botanik, Kutschentypen, Reitgeschwindigkeiten, Chemie, Weltpolitik, Kolonialismus, Mode, Sinologie, was nicht alles, und zeichnen im Wortsinne ein akkurates Bild eines Falles, den sie – Dank des titelgebenden Einblickes in Holmes‘ Kopf – nachvollziehbar erzählen. Ihr Kniff ist nämlich, inmitten etwa einer Zeugenbefragung Holmes‘ Haupt von innen darzustellen, mit Etagen, Leitern, Regalen, Schränken, die er durchwandert und durchwühlt, um aus den Details seiner Gegenüber verwertbare Erkenntnisse zu gewinnen und die nächsten Handlungsschritte abzuleiten.
So fantasievoll, wie Dahan und Liéron Holmes‘ Grübeleien bildhaft darstellen, so üppig, abwechslungsreich, detailfreudig, kunstvoll gestalten sie das gesamte Buch. Von Holmes‘ Wesenheiten – und den originalen Fällen, nicht nur der erste, „Eine Studie in Scharlachrot“, findet Erwähnung – haben sie selbstredend ebenso Kenntnis wie von allen oben genannten Aspekten: Aus Langeweile bedröhnt er sich mit Drogen, bis Haushälterin Mrs. Hudson einen Polizisten mit einem verwirrten Bekannten Watsons in die WG führt – und Holmes angeregt den sich ihm darbietenden roten Faden eines neuen Falles aufgreift. Wortwörtlich, denn ein solches Garn spinnen die Autoren einmal quer durchs gesamte Buch und reihen an ihm Erkenntnisse und Erlebnisse auf, inklusive eines einmaligen Reißens und Wiederaufnehmens. Holmes agiert lösungsorientiert und überheblich, dies aber nicht unsympathisch. Auch optisch nicht, der spindeldürre und biegsame Mann sieht ansprechend aus. Ebenso die anderen Figuren, allen voran Dr. Watson, der hier einen kernig vorgeschobenen Unterkiefer bekommt und gar nicht so hinterwäldlerisch oder tumb erscheint wie in vielen anderen Darstellungen, sondern zielstrebig, kooperativ, wissbegierig, gebildet, der nur eben nicht mit einem solch üppig ausgestatteten Kopf wie Holmes bestückt ist und deshalb in Bezug auf die in Versunkenheit geschehene Deduktion im Gegensatz zum Lesenden im Hintertreffen bleibt. Den leicht cartoonesken Anstrich der Figuren steckt man bereitwillig weg, schließlich handelt es sich hier immer noch um einen Comic, und der Kontrast zum monochrom-edlen Drumherum lässt selbiges noch heller strahlen.
Bei all der beeindruckenden Optik, den panelübergreifenden Strips, den seitenübergreifenden Panels, mit den ganzen Gimmicks, die man erst dann zu sehen bekommt, wenn man Seiten gegen Licht hält oder behutsam einrollt (was gegen Ebooks spricht), erdenken die Autoren dennoch einen soghaften Fall – hier bekommt man also ausnahmsweise mal beides kredenzt, Form und Inhalt. Ein Freund von Dr. Watson wird von Polizisten in einem unvorteilhaften Aufzug und ohne Erinnerung nachts auf der Straße aufgegriffen – und Holmes wittert sofort los, über Friedhof, Leichenschauhaus, Theater, Krankenhaus, Privatwohnung und Kaufhaus bis hin zum Stein des Anstoßes, dessen abscheulicher Inhalt sich wiederum bei genauer Lektüre des Buches bereits am Rande andeutet, da legen die Autoren verblüffende Fährten.
Einzig das Finale ist etwas unpassend gerafft: Wie so oft erläutert der Täter nach Überführung und –wältigung bereitwillig seine Motivation, und dies ist hier nicht wie der opulente Rest als Comic dargestellt, sondern als vierseitiger Strip mit Fließtext, durch den man sich mühsam ackern muss, und sei er auch noch so erhellend und mitleiderregend. Aber das mindert die Qualität dieses Buches nicht. Das übrigens ursprünglich als zwei Bücher erschien und in Deutschland zu einem zusammengefasst in den Buchhandel kam, sehr vorbildlich und wenig kapitalistisch, man hätte ja auch den doppelten Erlös generiert haben können. So bekommt man einen Prachtband inklusive pfiffig ausgestanztem Loch im Cover, den man mindestens zweimal am Stück durcharbeiten muss, um wirklich jeden Pinselstrich und jede Fährte überhaupt erfassen zu können. Erstaunlicherweise empfindet man Holmes nach dieser Lektüre nicht entzaubert, sondern sich in seinem Fantum nur bestätigt. Und man hört dabei sogar Christian Rode und Peter Groeger sprechen.