Von Onkel Rosebud
Meine Freundin geht sonst nur in Elektro-Clubs, keine Gitarren oder allenfalls misshandelte oder verfremdete, sagt sie. Aber nach einem gemütlichen Dinner bei Kerzenschein und argentinischem Malbec weicht ihr für Paul Van Dyk und ab 125 bpm piependes Herz auf, und dann gehen wir eben auch mal in so Rockschuppen, weil ich es da am gemütlichsten finde. Ich bin auch schon älter, hasse Mode und liebe Lieder von früher. Oder neue Lieder, die dann irgendwann später auch dazugehören zu den alten Liedern.
Abende in Rockschuppen verlaufen immer gleich, das ist gut zu wissen und sehr entspannt. Man kommt hin und trinkt und wartet, dass man betrunken wird. Das geht je nachdem sehr schnell oder nicht, auf jeden Fall schnell genug, denn die Trinkgeschwindigkeit verhält sich direkt proportional zur Lautstärke der Musik und umgekehrt proportional zur Kommunikationsfähigkeit. Das ist die wichtigste Regel in einem Rockschuppen: sehr schnell = sehr laut = wenig interessantes Gespräch.
Dann wünscht man sich bald, dass man selbst auflegt, denn was der da, der sogenannte Resident-DJ, heute darbietet, ist ja voll daneben. Dabei muss man ehrlicherweise zugeben, dass das amtierende, dumme Schwein von Plattenaufleger nicht ganz blöd ist, er spart sich wahrscheinlich nur die guten Songs für später auf, wenn endlich alle tanzen, moshen und blöken. Rock-DJs sind zumeist ziemlich artfremde Zeitgenossen und immer seltsam angezogen, in schwarzen, schlabberigen T-Shirts mit grellem Aufdruck über Lederhosen. Aber, wenn man sie lobt für die tollen Platten (zweitwichtigste Regel: Gib‘ dem DJ das Gefühl, tolle Platten zu haben) und in eine kleine Fachsimpelei verstrickt, dann essen sie einem sprichwörtlich aus der Hand. Irgendwann – jemand muss das ja machen – beginnt man zu tanzen und tut sich in seinem Vortrag möglichst aufregend komisch hervor, damit man vielleicht später darauf angesprochen wird. Alle anderen sehen das und stürmen hinterher.
Rockmusikmenschen tanzen in der Regel nicht sehr gut. Gelingt es einem, folgende nächstwichtige Regeln: Nicht mitsingen, nicht Luftgitarre spielen, nicht wild rumspringen, nur Rhythmus beachten, einhalten, dann kann man sich leicht hervortun. Wenn die Tanzfläche richtig voll ist, gibt es keine Regeln mehr, dann zählt nur noch, eigene und Körperteile der anderen möglichst unbeschadet zu lassen.
In so Rockschuppen gibt es natürlich Mädchenknaller und Jungskracher. Bei Offspring, Ramones oder anderem Punkrock; Korn, Bloodhound Gang bzw. ähnlichem Crossover-Hip-Hop-Gedöns sind männliche Protagonisten in der Überzahl, rempeln bierselig und bespringen sich ekelig wie Fußballer, wenn sie ein Tor geschossen haben. Bei Jamiroquai, Morcheeba oder Cardigans sind die Mädchen dran. Und ich. Weil es sich einfach schöner dazu tanzen lässt (und die körperlich aktiven Mädchen zur vorgerückten Stunde besser riechen). Bei Zwitter-Böllern wie Beastie Boys, Stereo MC’s, Prodigy oder Deutschgetöse strömen beide Geschlechter zu gleichen Teilen auf die Platte. Ich gehe dann trinken, denn die nächste Regel will beachtet sein: Bleibt man zu lange auf der Tanzfläche, hört man hinterher gar nicht mehr auf zu schwitzen. Aufs-Klo-Gehen wird mit jedem Mal schöner. Bei den Jungs wird plötzlich gegrüßt. Und keckerweise verirrte Mädchen, deren Bedürfnis größer war als die Schlange auf dem Damenklo, werden fröhlich willkommen geheißen.
Irgendwann wird es dann doch immer ein merkwürdig unwürdiges Schauspiel. Bei Midnight Oil, Sisters Of Mercy, H-BlockX und den jedes Mal unvermeidlichen Héroes del Silencio bricht die Hölle los. Grundsätzliche Regeln der Ethik und Ästhetik lassen sich nicht länger ignorieren, und auch der angestrebteste umnebelte Zustand kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeit mittlerweile reif dafür ist, sich gurgelnd und mit fiependen Ohren der Horizontalen hinzugeben. Ein feiner Abend. Ich mag diese Rockschuppen.
Onkel Rosebud
P.S.: Dieser Text erschien erstmals am 26. Januar 2000 in ad-rem, Jahrgang 12, Nummer 3.