Von Onkel Rosebud (08.01.20223)
Front 242 haben an einem gewissen Zeitpunkt sprichwörtlich mein Leben gerettet. Das ist schon über 35 Jahre her und die Geschichte dazu soll nicht Bestandteil dieses Konzertberichtes sein. Sie ist aber definitiv der Grund, warum sich an diesem trüben 7. Januar mit Einbruch der Dunkelheit eine kleine, aber feine Reisegruppe, bestehend aus drei Vätern und einem Sohn, in die Bundeshauptstadt aufmacht.
Die Erfinder der EBM, Electronic Body Music, haben sich zu einer „Join The Forces“-Tour angesagt. Der Anfang der 1980er-Jahre entstandene Musikstil, der durch repetitive Sequenzerläufe, tanzbetonte Rhythmen sowie zumeist klare, parolenähnliche Shouts gekennzeichnet ist, gilt als zufallsbedingte Verschmelzung britischer Industrial- (Nitzer Ebb) und kontinentaleuropäischer Minimal-Electro-Musik (Front 242) und nahm bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung von unter anderem Techno. Soweit zu meinem halbseidigen Wiki-Wissen. Ob die Welt ohne Techno vielleicht sogar besser dran gewesen wäre… wer weiß?
Einer guten Tradition folgend suchen wir vor dem Konzertbesuch noch einen Imbiss mit Sitzgelegenheit auf, in der Hoffnung, orientalischen Schmackofatz aufgetischt zu bekommen, den es nur in Westberlin gibt bzw. der leckerer schmeckt als zu Hause. Hashtag: Schawarma. Wie immer werden wir enttäuscht. Dafür treffen wir im Lokal den amtlichen Fürst der Finsternis unserer Heimatstadt. Großes Hallo. Du auch hier? Hätte ich nicht von Dir gedacht. Hä, na klar, wer sonst. Corona gut überstanden? Er sorgt auf jeden Fall dafür, dass die Party auf dem Heimweg nicht nachlässt, weil drei Menschen über 1,85m „mit Rücken“ auf der Hinterbank eines Opel Insignia mit Gerstensaftschorle sich so einiges erzählen müssen, um Sitz-Schmerz und Enge zu übertünchen. Der 16-jährige Sohn darf vorn sitzen, weil er die Musikauswahl übernimmt. Macht er gut.
Die Columbiahalle ist bereits proppe gefüllt mit Ü50-Testosteron: Tätowierte, glatzköpfige Kinnbärte mit Übergewicht in schwarzen Muscle-Shirts mit einschlägigen Slogans in altdeutscher Schrift über Lederhose. Ja, EBM hatte und hat auch immer eine gewisse Portion Homoerotik zu bieten. Der Sohn guckt ganz irritiert, in welche ausweglose Lage ihn sein Vater da manövriert haben könnte…
Um 19:40 Uhr geht es auch schon überpünktlich los. Die Vorband heißt Liebknecht. Ich habe noch nie von denen gehört. 150bpm Bumms mit Trompete. Auf der Bühne haben die Protagonisten eines Electro-Acts im Prinzip nicht viel zu tun. Knöpfchendrück hier, verzerrter Rufgesang da. Front 242 und Nitzer Ebb kompensieren das durch rampensauisches Verhalten der Frontmänner, andere haben schöne Visuals am Start. Liebknecht – echt beknackter Name – hat weder noch.
Nach einer kurzen Umbaupause kommen bereits eine Stunde später Front 242 on stage und bieten 18 Tracks auf. Leider ist der Drummer verhindert, weshalb das ganze eine Halb-Playback-Show ist. Nach dem Opener „First In/First Out“ rumpeln sich die drei Herren in „Take One“. Mir gefällt das, auch wenn es nicht sein muss, dass ich das volle, nasse Haupthaar des vor mir Springenden über die Haut gewischt bekomme, wenn er den Kopf herumreißt. Es folgen neue Stücke und Klassiker wie „Commando Mix“ und „Tragedy >For You<“ bis zum unvermeidlichen „Headhunter“. Es ist aber auch zu schön, um wahr zu sein, wenn Tausende die Finger recken und „One – You lock the target, Two – You bait the line, Three – You slowly spread the net, and four – You catch the man“ skandieren.
Shouter Jean-Luc De Meyer, 65 Jahre alt, hüpft batteriebetrieben auf und ab und fuchtelt wild dazu. Leider hat er eine enge Leggins an, durch die die Konturen seines durchschnittlich kleinen, festen Gemächts zu sehen sind. Das ist definitiv ein Nachteil, wenn man über 1,85m groß ist. Mit einer Höhe von 1,70m wäre das einem erspart geblieben.
22:30 Uhr mäandern die Herren von Nitzer Ebb auf die Bühne. Diesmal mit einem in bemerkenswert gut in Form befindlichen Douglas McCarthy. Und während ich noch denke, uh das wird spät heute, bollert auch schon „Control I’m Here“ durch das Soundsystem. Sehr fein. In der Columbiahalle geht es heftig zu. Im Getümmel ganz vorn kann ich den Fürst der Finsternis erkennen. Hoffentlich hat er eine Obertrikotage zum Wechseln dabei. Aller Orten Bewegungsdrang und ich bediene ausgelassen die Fußwippe. Es ist zu laut, zu warm und die Luft ist schlecht, also so, wie es sein muss. Ich bekomme komische Blicke, weil auf meinem, nicht schwarzen T-Shirt die Aufschrift: „Am schönsten ist es eigentlich immer noch im Wald“ steht und elektronische Endgeräte aus den 90ern abgebildet sind. Zwischen Mr. McCarthy und Bon Harris scheint die Chemie nicht zu stimmen. Aber egal. Jeder hat seine Probleme. „Join In The Chant“ und schlußendlich „Murderous“ runden einen duften Konzertbesuch ab, den der Sohn wie folgt treffend zusammenfasst: Kannste nicht meckern. Wo wir herkommen, ist das ein Lob.
Halb 3 hing die Hose kalt am Bett.
Onkel Rosebud