Von Matthias Bosenick (16.12.2022)
Man könnte ihm ewig zuhören. Wenn Marcel Pollex vorn am Mikro steht und die Welt dadurch verspottet, dass er sie um mindestens eine Windung weitergedreht verbal abbildet, fühlt man sich verstanden und bisweilen auch gemeint. Mit seiner Satire verteilt Pollex die Watschen gleich mehrbödig bis in die Metaebene hinein, mit Nebensätzen, einzelnen Formulierungen und Themensprüngen erwischt es die Gegenwart vom Wochenmarkt über aktuelle Politik bis hin zu Twitter. Dabei verhält er sich nicht wie ein Comedian, der sich die Schenkel klopft, sondern gießt seine Abscheu der Welt gegenüber in wohlformulierte Texte, skurrile Dialoge oder Notizen mit Bruchstellen, inklusive Rollenwechseln und plötzlichem Herumschreien. Man möchte ihm sogar ewig zuhören.
Gleich zu Beginn wird Pollex psychologisch: Auch wenn er auf der Bühne steht und man dem Bühnenmenschen grundsätzlich eine souveränere Routine unterstellt, als man sie sich selbst zumutet, präsentiert er einen verletzlichen Aspekt – und zeigt sich dadurch wiederum unverletzlich. Alle, so der Dichter, würden ja sofort auf seine Hose blicken, da sie einen Wasserfleck aufweist, und er sei sich dieser Peinlichkeit bewusst. Er entwaffnet also sein potentiell bedrohliches Publikum und damit sich selbst gleich mit, indem er eine potentielle Verletzlichkeit als Schutzschild errichtet. Jeder im Publikum, der sich nicht wie Pollex auf eine solche Bühne stellen würde, fühlt sofort mit ihm mit. Und schon mit dem ersten empathischen Kommentar aus den Sitzreihen, „das könnte ja auch ein Schatten sein“, wendet Pollex den Aspekt abrupt unwirsch als Waffe an: „Was soll denn das für ein Objekt sein!!!!“ So schlagfertig verhielte man sich als Zuschauer dort auf der Bühne nicht, wäre man zu so einem Auftritt gezwungen. Bei aller Komplizenhaftigkeit ist Pollex also da vorn allein vor dem weinroten Vorhang schon ganz richtig positioniert.
Das unterstreicht der Dichter natürlich auch mit seiner Darbietung. Sein Schreib- und Sprachstil sind einmalig, wie er da beinahe unbeteiligt-gelangweilt die unglaublichsten Haken schlägt und eingearbeitete Seitenhiebe fast schon verschludert, so voll sind seine Texte, und dann steht er da mit eng am Körper anliegenden Armen, den schüchternen Poeten nach außen tragend, ein Eindruck, den er dadurch bricht, dass er zwischendurch einzelne Teile am Mikro vorbei hervorbrüllt oder wild mit den Armen rudert. Pollex ist ein Gesamtkunstwerk aus Wort und Bild.
Wer Pollex‘ Texte kennt, weiß, dass er darin Abscheu an der gegenwärtigen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Doch er pöbelt nicht einfach herum, sondern bildet ab, was ihm aufstößt, indem er es überhöht, übertreibt, und dabei stets und immer den Schritt in Richtung Comedy vermeidet. Dafür sind seine Betrachtungen zu genau und sein Horizont zu weit. Wenn er sich etwa eigentlich in einem Beitrag darüber auslässt, dass der alleinstehende Schnauzbart wieder in Mode ist, nimmt er unzählige weitere Absurditäten aufs Korn, indem er nebenbei diese männliche Gesichtshaarfrisur neu auf die Welt blicken lässt, „oh, ist das ein Buch?“, lässt er die Fritte den sie tragenden jungen Berliner Entrepreneur mit absurdem Vornamen fragen, den Pollex nur geringschätzig lachen lässt: „Nein, das ist ein Antrag auf Fördermittel.“ Ein halbes Dutzend Ohrfeigen in einem kleinen Absatz. Oder: Er sagt nicht, dass es architektonisch unsinnig ist, dass es in Erdgeschosswohnungen Balkons gibt, sondern stellt einen Menschen auf einem solchen sitzend dar, der als Folge dieser Wohnsituation sein Leben für verwirkt hält und nebenbei insgeheim der nervigen Nachbarin beim Balkongespräch zuflüstert, dass ihre Tochter sich nachvollziehbar verhält, wenn sie zum schlimmsten Menschen in ihrem Leben den Kontakt meidet, und zwar ihrer Mutter, also dieser Nachbarin; das sind für manche Menschen unzählige Jahre Therapie in einem Nebensatz.
Von der kleinsten Wahrnehmung bis zum großen Phänomen beeindruckt es, was Pollex da zusammenträgt und wie er dies vollführt. Dabei spielt er nicht nur mit Sprache, den rhetorischen Mitteln der Satire und dem Weltschmerz, sondern auch mit der Metaebene: Einen Text lässt er in der Gegenwart auslaufen, in den Moment hineinfließen, in dem er ihn vorträgt. Man möchte ihm ewig dabei zuhören. Auch deshalb, weil er häufig die eigenen Gedanken und Empfindungen aufgreift – man findet sich wieder. Und applaudieren möchte man, so lang er aus der Wasserfalsche trinkt, weil ihm das zunächst unangenehm ist, dass derweil Stille herrscht, bis es ihm alsbald unangenehm ist, dass er den meisten Applaus fürs Trinken zu bekommen scheint. Stimmt ja gar nicht.
Der Auftritt „Marcel Pollex geht baden“ fand statt im Rahmen von Pollex‘ Lesereise durch das Braunschweiger Staatstheater, nach „Marcel Pollex hat sich verlaufen“ im Roten Saal und „Marcel Pollex hat sein Momentum verloren“ im Staatstheater. Eine gute Nachricht gab er dem Publikum noch auf den Weg: Mit Roland Kremer und Axel Klingenberg plant Pollex, im Kufa-Haus zu Braunschweig eine neue Lesebühne namens „Generalprobe“ zu etablieren. Erster Termin ist Freitag, 13. Januar 2023. Da endet eine Durststrecke. Den Applaus gibt’s dieses Mal nicht fürs Trinken, sondern für die frische Quelle.