Von Matthias Bosenick (02.11.2022)
Hamataï! Etwas Neues von Magma ist immer ein Fest, auch wenn man eigentlich seit 30 Jahren von Magma kaum wirklich Neues mehr bekommt. Aber es ist grandios genug, dass die 53 Jahre alte Band des Schlagzeugers und Sängers Christian Vander – mit Unterbrechung – immer noch existiert und komplett eigensinnige Musik fabriziert. Ausgehend davon, seinerzeit von John Coltrane inspiriert worden zu sein, entwickelten die Franzosen schnell ihre eigene Spielart von Jazz, die von anderen aus Ermangelung an passenden Schubladen unter Progrock wegsortiert wird. Nicht davon trifft eigentlich zu, oder alles gleichzeitig – die Musik von Magma ist nach eigener Angabe Zeuhl, in der eigenen Sprache Kobaïanisch bedeutet dies Himmel. Das teilweise auf Aufnahmen aus dem Jahr 1978 basierende „Kãrtëhl“ führt fort, was man seit Ewigkeiten von Magma kennt, auch unter wechselnden Besetzungen: Zappelige, mehrstimmige, verschachtelte, hypnotische, pianobasierte Rhythmus-Musik, die einem keine Ruhe lässt und den Kopf wegsprengt.
Da der Bandchef Schlagzeuger ist – er spielt also die Batterie – , bildet Rhythmus das wesentliche Element im Sound von Magma, kombiniert mit Bass und Piano. Flächen ergeben sich vorrangig vermittels des überwiegend weiblichen polyphonen Gesangs, der nicht selten ins Kreischen ragt und der die Energie der Stücke noch mehr aufputscht. Zwar listet das Booklet auch Gitarre und Bass, doch hat man hier Schlagzeug, Klavier oder Fender Rhodes und Gesang vorrangig vor Ohren. Und die komplex verschachtelten Strukturen, die man bei Magma so liebt, die sowohl auf die Melodien als auch auf die wechselnden Stimmungen Einfluss haben. Wenngleich die vorrangige Stimmung gehetzt wirkt, hyperaktiv, zappelig, rast- und ruhelos, getrieben, aufgepeitscht, und doch konzertiert, konzentriert, fokussiert. Also wie immer bei Magma.
Wie immer, dabei sind Magma 2022 erst quasi zwei Jahre alt: Die Hälfte der Mitmusizierenden ist neu hinzugekommen. Erstaunlich genug, dass dieser Umstand dem Sound der Band die Unverwechselbarkeit nicht raubt. Nun, es erscheint nicht selten der Eindruck, dass Vander ein despotischer Bandkopf ist, zumindest legen Clips und Videos aus dem Studio oder von der Bühne dies bisweilen recht nahe. Sympathisch wirkt der Mann nicht, aber das kann natürlich täuschen, und das verzeiht man ihm wohl aufgrund seiner Genialität als Komponist. Zumindest benennen zahllose frühere Magma-Musiker Vanders Wirken als Grundlage für ihre eigene Karriere, das sind somit ebenso zahllose Ritterschläge für Vander. Und als würde Vander seinen Ruf ahnen, lässt er gerade auf „Kãrtëhl“ auch seine Mitmusiker als Komponisten zu – die belegen, wie nährend Vanders Muttermilch in deren DNA übergegangen ist, denn die entsprechenden Stücke klingen: nach Magma. Und zwar sogar mehr, als es den beiden 1978er-Demos Vanders aus dem Bonus-Bereich gelingt, deren Neueinspielungen das Album als Klammer umfassen.
Neukompositionen, sogar solche aus anderer Feder als der Vanders, das ist zuletzt recht selten bei Magma, wenngleich eben auch „Kãrtëhl“ den Rückgriff auf frühere Zeiten beinhaltet. So war es seit der Reunion in den Neunzigern eigentlich fast immer: „Zëss“ aus dem Jahr 2019 basiert auf Kompositionen aus den Siebzigern, die Magma seinerzeit mehrfach live aufführten. Die 2014er-EP „Rïah Sahïltaahk“ bezieht sich auf den gleichnamigen Track des zweiten Albums „1001°Centigrades“ aus dem Jahr 1971. Das 2009er-Album „Ëmëhntëhtt-Rê“ findet seine Grundzüge in der Mitte der Siebziger, nämlich auf „Live/Hhaï“ und „Üdü Ẁüdü“. Auch das Comeback-Album „Köhntarkösz Anteria“ aka „K.A“ aus dem Jahr 2004 hat seine Wurzeln in den Siebzigern, nachzuhören auf dem seinerzeit erschienenen Sampler „Inédits“. Einzig „Šlaǧ Tanƶ“ (2015) und „Félicité Thösz“ (2012) sind Veröffentlichungen mit ausschließlich Neukompositionen, die Vander indes bereits Anfang der 2000er verfasste und die Magma ab 2009 auch live spielten; so richtig komplett neu waren also nur die beiden Comeback-Songs „Flöë Ëssi/Ëktah“, die 1998 als Single erschienen.
Wer sich jetzt über die kryptischen Titel wundert, sieht sich damit konfrontiert, dass Vander mit seiner Band den Mythos um das extraterrestrische Volk Kobaïa erzählt, und zwar in deren Sprache, die folglich das Kobaïanisch ist, das Vander mit seinem früheren Sidekick Klaus Blasquiz entwickelte. So sind die meisten Texte in jener Kunstsprache gehalten, wo nicht auch mal ganz überraschend Französisch ertönt. Das von Magma begründete Genre Zeuhl zieht seit den Siebzigern nicht nur Fans, sondern auch Epigonen in den Bann: Besonders in Frankreich und Japan finden sich viele Musiker, die Vander nacheifern. Und eigentlich sind Magma heute ja auch eher ihre eigenen Nacheiferer: Der 74-jährige Vander ist das einzig verbliebene Gründungsmitglied, selbst bis zum Split in den Achtzigern, und seit der Reunion zehn Jahre später ist nur noch seine bereits in den Siebzigern hinzugestoßene singende Ex-Gattin Stella Vander eine Konstante im Line-Up.
Schwierig für Neueinsteiger wie Altfans ist zudem das Vorhaben, Magma-Veröffentlichungen vollständig ins Regal zu stellen. Es ist schon ungenau genug, überhaupt zu beziffern, um das wievielte Album es sich bei „Kãrtëhl“ genau handelt (die Zahl 15 steht da im Raume, wenngleich es Irritationen darüber gibt, ob man die EPs und Mini-Alben mitzählt oder nicht). Dann gibt es noch weit mehr Live- und Raritäten-Alben, dazu Solo-Alben von Vander sowie Nebenprojekte, allen voran Offering, das eigentlich lediglich die knappe Magma-Lücke von vor 30 Jahren schloss. Viel Spaß beim Sammeln, obschon einem Boxen wie „Studio Zünd“ aus dem Jahr 2008 mit den bis 2004 erschienenen Studioalben plus einer Doppel-CD mit Raritäten, „Köhnzert Zünd“ mit gesammelten Live-Alben aus dem Jahr 2015 sowie „Magma Présente Offering“ mit den drei Studioalben des Seitenarms aus dem Jahr 2003 erbauliche Hilfe leisten. Nur ist eben seitdem noch so einiges hinzugekommen.
Der Tantiemen aus dem alten-neuen Track „Dëhndë“ des neuen Albums gehen übrigens an eine wohltätige Autismus-Organisation. Überdies ist bemerkenswert, dass es „Kãrtëhl“ ausschließlich auf CD oder dreiseitiger Doppel-LP sowie als Download gibt – bei Spotify oder Youtube findet man es nicht. Und: Es nicht in sein Regal stellen zu wollen, ist keine Option. Es ist eben ein Fest, sobald es neue Musik von Magma gibt. Immer.