Von Guido Dörheide (19.10.2022)
Kaum einer E-Mail habe ich mit soviel Spannung entgegengefiebert wie der von heute (14.10.2022), 1104 UTC+2. Absender: Bandcamp. Betreff: „?0?? (2022) just released!“ Also gleich mal mein vor Wochen vorbestelltes Album gedownloaded und angehört.
Die letzte Atempause seit „Über Menschen“ währte sieben Jahre, dennoch wird von der Düsseldorfer Indie-Institution Fehlfarben weiterhin eifrig Geschichte gemacht. Im Vorfeld dieser ersten Fehlfarben-Veröffentlichung der 20er-Jahre hatte ich mir die Wartezeit mit dem Hören der „neuen“ Fehlfarben-Alben von 1991 bis 2015 vertrieben und zwischendurch auch immer mal wieder „Monarchie und Alltag“, das sensationelle Debüt aus dem Jahr 1980, sowie die beiden Werke seitdem bis zur vorläufigen Auflösung der Band 1984 aufgelegt.
Mit dem Debüt haben die Farben eines der wichtigsten Werke deutschsprachiger Rockmusik hingelegt, dann stieg Frontmann Peter Hein aus, nichtsdestotrotz gab es noch zwei Spitzenalben mit Thomas Schwebel als Sänger. Seit der Neugründung 1989 ist Hein wieder für die Bedienung des Mikrofons zuständig und alle Veröffentlichungen von der „Platte des himmlischen Friedens“ (1991) bis hin zum bereits erwähnten „Über Menschen“ (2015) haben in mir die Erkenntnis reifen lassen, dass Fehlfarben die passendste Band für Leute ist, die Blumfeld auf den ersten beiden Alben innigst verehrt haben und ab dem dritten nichts mehr mit ihnen anfangen konnten. Ist nur so ein subjektives Bauchgefühl, ich mache es daran fest, dass Fehlfarben unaufgeregte und dennoch spektakuläre Indiemusik mit einer unter die Haut gehenden Stimme nebst überaus eindringlichem Vortrag und wundervoll hintergründigen und toll formulierten Texten verbinden.
Peter Hein ist inzwischen 65, und er klingt immer noch toll. Sein Tonfall schwankt immer irgendwo zwischen Entsetzen und Bedrohung, die Stimme klingt leicht schneidend und dabei angenehm tief und hoch gleichzeitig und textlich spielt er immer noch auf den obersten Plätzen seiner eigenen Liga. Hier jetzt alle Texte auseinanderzunehmen, würde in einer Landkarte im Maßstab Eins zu Eins gipfeln, daher führe ich nur mal ein paar kurze Ausschnitte auf:
Bereits der Opener „In die Welt gestellt“ fängt super an: „Mach Dich auf den Weg. Den Weg, den keiner sonst geht. Geh ihn nicht allein. Allein kommst Du nicht heim.“ Das klingt eindringlich, aber auch positiv. Hein sieht immerhin einen Weg, den man noch gehen kann. Einer meiner textlichen Favoriten – neben den übrigen 11 Stücken auf dem Album (eines für jeden Monat des Jahres übrigens) – ist „Stolz?“. „Vor Zeiten war ich zwei Öltanks“ ist schon mal ein super Einstieg, direkt gerichtet an Menschen meines Alters, die diesen Werbeslogan noch aus eigener Anschauung kennen. Das Fragezeichen hinter dem Stolz steht dort nicht nur aus Jux und Dollerei, Hein fragt den, an den er sich im Text wendet, immer wieder: „Auf was bist zu stolz?“, schleudert ihm dann ein patziges „Dann sei doch scheißstolz!“ entgegen und am Ende lässt er durchblicken, dass er seinen Wohnsitz längst von Düsseldorf nach Wien verlegt hat, wenn er singt: „Geh‘ scheißen mit Deinem Stolz!“. Der dem Text und dem Gesang innewohnende Zorn kommt glaubhaft rüber, Hein blickt nachdenklich darauf zurück, dass er die Zeiten bis heute überlebt hat, sieht aber Stolz dafür als die komplett unpassende Emotion an. Dass der gegenwärtige Krieg nicht vor der Tür des Ich-Erzählers stattfindet, findet er gut, schließlich ließe er sich das was kosten und zahle was dafür, und dass am Ende jemand migrieren muss, darum kümmern sich dann „sie“, also andere. Das sitzt.
In „Tanz auf der Straße“ bekommen die Hörenden zunächst den Eindruck, als wolle Hein behaupten, dass früher mal irgendwas besser war („Da war doch mal was, das nannten sie Spaß.“), aber mit dem Refrain „Tanz auf der Straße bis morgens um 4. Bis zur Ekstase, dafür sind wir hier“ nimmt er dann doch wieder alle mit. Gegen Ende des Stücks heißt es dann: „Fight for your right to party. No sleep till Hammersmith.“ Die Beastie Boys mit Motörhead direkt nebeneinander in einem ansonsten deutschen Songtext unterzubringen, finde ich eine Superidee.
Auf „Innenstadtfront“ covert Hein sich selbst, der Song stammt von der Band „Mittagspause“, für die er vor den Fehlfarben tätig war. In „Europa“ packt Hein den Stier nicht bei den Hörnern, sondern gleich bei den Eiern. Gute Idee. Hein thematisiert – so verstehe ich den Text – fehlgeleitetes europäisches Elitendenken und schließt mit „Retten Sie Europa, sonst stirbt Europa“, nicht ohne noch zugegebenermaßen nicht unwitzig mit „Europa / Euer Opa“ herumzukalauern.
„Kontrollorgan.“ beginnt mit der (nicht namentlichen) Erwähnung von Formulierungen, die man nicht mehr aussprechen dürfe, da sie von den Nazis ausgedacht seien. Die Nazis hätten sich laut Hein aber „nichts ausgedacht“, weil sie dafür „im Hirn zu schwach“ gewesen wären, vielmehr hätten sie „nachgemacht und perfektioniert, wie die deutsche Seele funktioniert.“ Das finde ich mal treffend auf den Punkt gebracht. Und heute sollten wir uns dafür hüten, dass wieder jemand diesen gut funktionierenden Mechanismus für seine eigenen üblen Zwecke nutzt.
Textliche Highlights von „Ich kann es kaum erwarten“ sind die Zeilen „Bin schon genauso so vegan wie der Mittelstreifen der Autobahn“ und „Ich wohn‘ in dem Land, wo die Nazis blüh‘n – wie Bäume, unten braun und oben grün“ – Dennoch kann der Protagonist es kaum erwarten, wieder zuhause zu sein. Und das ist das Schöne an „?0??“ – der Optimismus in den Texten ist irgendwie nicht kaputtzukriegen. Wie auf einem Album, das sich mit dem aktuellen Jahr beschäftigt, nicht anders zu denken, wird auch Covid erwähnt („Schon wieder ein Jahr, und wieder kein Fest, es bleibt einfach Winter“ in „ Das Rennen macht müde“).
Musikalisch ist das Album mit den drei ??? ziemlich umwerfend geraten: Natürlich ist der seit über 40 Jahren typische Fehlfarben-Sound (mit Ausnahme der Alben, auf denen er nicht gesungen hat) sehr von Peter Heins Gesang geprägt. Seine unglaubliche Präsenz und seine niemals belanglosen und manchmal kryptisch anmutenden Texte sind für mich das, was am meisten Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber auch auf der Instrumentenseite sind Fehlfarben immer höchst wiedererkennbar, einzigartig und wahnsinnig gut. Die Arbeit von Thomas Schneider an der Gitarre fällt mir dabei als Erstes ins Ohr: Gleich ab dem ersten Stück erzeugen seine klirrenden und schön melancholischen und düsteren Riffs eine Stimmung, die zum einen deutlich macht, dass Fehlfarben schon seit den 80ern aktiv sind, und zum anderen total zeitlos rüberkommen. Die Rhythmusabteilung mit Saskia von Klitzing am Schlagzeug und Michael Kemner am Bass drängt sich niemals in den Vordergrund, läuft aber auch nie Gefahr, unbeachtet bleiben zu müssen. Achtet man beim Hören mal genauer auf diese beiden Instrumente, kann man kaum glauben, mit welcher Präzision und Wärme dort zu Werke gegangen wird, und entdeckt immer wieder neue Details und Facetten, ohne die das Album nicht das Wunderding wäre, das es ist. Anspieltipp hierzu ist „Stolz?“. Da mal reinhören, und Sie werden unmittelbar erkennen, was den Bass- und Schlagzeugsound dieses Albums und dieser Band ausmachen. Drüber hinaus ermöglichen von Klitzing und Kemner den Fehlfarben eine unglaubliche stilistische Bandbreite: Wenn ich Fehlfarben musikalisch möglichst unidimensional einordnen sollte, würde ich sagen „Alternative / Post Punk“, wenn ich nochmal die Lautstärke erhöhe und mich voll auf die Musik konzentriere, erkenne ich einen hohen Tanzbarkeitsfaktor, der darin gipfelt, dass beim letzten Stück, „3 Kapitäne“ ein House-Rhythmus zum Einsatz kommt, der ebenso in die Beine geht wie Peter Heins Gesang sich von Schneiders Gitarre mit Vehemenz unterstützt ins Hirn hineinarbeitet.
Eindrucksvoller Beleg für das perfekte Zusammenspiel sämtlicher Instrumente ist auch „Kontrollorgan“: Mittleres Tempo, treibendes Schlagzeug, donnernder Bass und dazu das eindringliche Klagen von Peter Hein: Braucht es da noch weitere Instrumente? Ja, es braucht, bzw. es trägt dazu bei, den Fehlfarben-Sound noch besser und vor allem unverwechselbarer zu machen: Pyrolator a/k/a Kurt Dahlke an den Tasteninstrumenten hält sich vornehm im Hintergrund und glänzt dort, wo er glänzt, dann so richtig. Hierzu einfach mal in „Das Rennen macht müde“ reinhören: Ohne Pyrolators Synths wäre ein derartig unterschwellig brutales Pandämonium in keinster Weise denkbar. Zusätzlich ertönt immer wieder Frank Fenstermachers Saxophon; „Brot ohne Spiele“ gewinnt ebenfalls unheimlich durch Pyrolators Tasteninstrumente und ließe sich ohne Fenstermachers Sax nicht vernünftig zuende bringen. Auch „Der letzte Traum“ ist voller großer Pyrolator-Momente und überhaupt fallen seine stimmigen Keyboard-Einsätze umso mehr auf, je öfter man das Album hört.
Ich bin der Meinung („das war Spitze!“, hätte ich jetzt fast undiszipliniert hereingerufen), in keinster Weise zu übertreiben, wenn ich sage: Es ist unglaublich, dass eine schon so lange aktive Band mit jedem Album aufs Neue musikalisch zu begeistern weiß, sich textlich immer auf der Höhe der Zeit bewegt, gesanglich weder älter noch müder wird (eher an Eindrücklichkeit von Album zu Album hinzugewinnt), niemals enttäuscht und damit an einem Lebenswerk bastelt, in dem der Begriff „Spätwerk“ wohl nie einen Platz finden wird. Plus Spitze, macht 11 von 10 Punkten für eines der bislang bedeutendsten Alben dieses Jahres.