Von Matthias Bosenick (20.09.2022)
Endlich! Endlich bringt das dreiköpfige Duo infernale die Fortsetzung auf den Markt! Nach dem Aufmerksamkeit garantierenden „Braunschweig‘sche Weihnacht“ aus dem Prä-Corona-Jahr 2019 widmen sich Till Burgwächter und Hardy Crueger nun einem zeitgemäßen Trendthema: True Crime, begangen an der Oker. Wer die Arbeiten der beiden Autoren kennt, weiß, dass sie an diese Aufgabe nicht im gewöhnlichen Stil herangehen: Burgwächter betrachtet seine Ganoven mit lakonischem Zynismus, Crueger seine Protagonisten mit empathischer Akkuratesse. Diese Mischung macht‘s, denn nach den emotional aufwühlenden Crueger-Beiträgen freut man sich jeweils auf einige Seiten fundierten Lachens mit Burgwächter. Und was die beiden alles rund um die Umflutgräben ausgraben: Neben schockierend absichtlichen und irritierend versehentlichen Bluttaten auch gravierende bis scheinbar banale Delikte aus Fußball, (Bruch-)Straßenverkehr und Telefonterror. Man hört die beiden erprobten Autoren bei der Lektüre schon selbst lesen und freut sich auf die Live-Umsetzung. Und die Fortsetzung: Packt den Illustratoren Karsten Weyershausen bitte ein drittes Mal mit ein und bringt ein weiteres Thema in eurem Sound als Buch heraus!
Es ist gerade der Mix, der hier so für manche vermutlich überraschend gut funktioniert. Beide Autoren gehen komplett anders an ihre Aufgabenstellung heran: Burgwächter mit themenbezogener Recherche und Ironie, Crueger mit phantasievoller Ausgestaltung und Tiefe. Während sich Crueger in seinen Texten vornehmlich Einzelfällen widmet, dabei die Perspektiven wechselt und mit ihnen auch unterschiedliche Erzählstile adaptiert, strukturiert Burgwächter seine Beiträge nach Schwerpunkten, zu denen er in seinem wunderbar sarkastischen Wortlaut Beispiele zusammenträgt. Solche wie: Überfälle mit Panzerfäusten, Geldautomatensprengungen, Verkehrsdelikte auf öffentlichen Straßen wie im Rotlichtviertel, Taschendiebe und – ja, die Palette der Straftaten, die die Autoren hier bündeln, scheint vollständig zu sein – Vergehen rund ums Stadion, und bei vielen seiner Kapriolen scheint der Missbrauch flüssig vergorener Naturprodukte eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. Zudem räumt er mit der nach Grimms-Märchen-Art verfahrenen Infantilisierung der Figur Till Eulenspiegel auf und belegt, um was für ein verbrecherisches Arschloch es sich bei jenem laut alter Quellen handelte.
Dabei fallen zwei bemerkenswerte Umstände auf: Insbesondere im Kapitel über den Enkel-Trick ist Burgwächter nicht nur sarkastisch, sondern auch aufrüttelnd und aufklärend. Und: Er positioniert sich sehr deutlich gegen Rechts. Das schlimmste „Braunschweig‘sche Verbrechen“, legen sich die Autoren im Vorwort fest, war „die Einbürgerung eines kleinen Österreichers mit Stummelschnauz“, und auch im Abschnitt über die Frankfurter Platz „herumkullernden Faschistenmurmeln“ findet Burgwächter deutliche Worte.
Die Verbrechen, die Burgwächter ausfindig macht, müssen gar nicht immer komplett spektakulär sein – die Art, in der er sie vermittelt, ist es in jedem Falle, und man findet sich bei der Lektüre seiner Texte sehr oft laut lachend wieder, bisweilen wegen einzeln gesetzter Worte (er bezeichnet etwa die Idee, eine Tram zu stehlen, beiläufig als „ausbaufähig“) oder der Bilder, die er zeichnet (von zu hoch dosierten Sprengladungen an Geldautomaten nimmt er an, dass die Scheine „zwei Stadtteile weiter“ von einer „doch irgendwie antikapitalistisch eingestellten Kuh gefressen werden“).
Man braucht diese humorigen Kapitel auch unbedingt, um die abgründigen Geschichten zu verdauen, die Crueger kredenzt. Braunschweigs bester Krimi-Autor macht hier, was er immer macht: Er versetzt sich überzeugend und detailverliebt in Personen hinein und transportiert die oftmals erschütterndsten Begebenheiten mit einer Nähe, die häufig nur schwer verdaulich ist, ganz gleich, ob man mit den Protagonisten nun sympathisiert oder nicht. Wie er sich in komplett amoralische Gestalten hineindenkt, die einen Kumpel unbeeindruckt von der Brücke werfen. Wie er die Perspektive eines potentiellen Vergewaltigungsopfers einnimmt, oder einer Mutter, die im Wahn, einmal mehr verlassen zu werden, erschütternd überreagiert (und immer sprachlich so grandios; ein Kind verliert den Halt auf einer Brücke: „[…] niemals gab es Halt, wer wusste das besser als sie“), oder eines versehentlich in eine Razzia geratenen Senioren, oder eines überfallenen Nähereibetreibers, oder von Eltern, die fürchten, ihre Tochter sei ermordet worden, mit einer Auflösung, die noch dramatischer ist als das Problem, oder – und das unterstreicht nur umso deutlicher Cruegers Kunst – des Jödebrunnens, der die Menschen angewidert bei ihren widerwärtigen Taten beobachtet.
Beide Autoren verankern in diesem Buch überdies Links zu ihrem bisherigen Werk: Crueger entnimmt einen Text seiner ersten Sammlung von „Okergeschichten“ und Burgwächter lässt Anspielungen an sein jüngstes als Marc Halupczok veröffentlichtes Kompendium „Lost & Dark Places Braunschweig“ einfließen, indem er die verlassene Tiefgarage im Univiertel und Hexenverbrennungen am Lechlumer Holz erwähnt. Keine Erwähnung finden übrigens andere übliche Themenfelder der beiden Autoren: Rund um Punkrock und Heavy Metal gab und gibt es offenbar keinerlei Verbrechen in Braunschweig. Kein Wunder, dass man sich unter Bunt- und Langhaarigen so sicher fühlt.
Nicht unerwähnt muss die dritte verbündete Person bleiben: Nicht nur das Titelbild, auch viele eingestreute Cartoons stammen wieder von Karsten Weyershausen. Grandios, wie er sein Cover zur „Braunschweig‘schen Weihnacht“ quasi remixt: Statt des Weihnachtsmannes schleppt hier ein Schurke (Wortlaut in den Lustigen Taschenbüchern für „Kriminelle“) den schweren Sack durchs nächtliche Braunschweig, wie Santa Claus auf dem ersten Buch ebenfalls mit Kippe im Mund, nur angereichert mit Waffen und Eintracht-Schal sowie verfolgt von einer Katze statt eines Hundes. Schade, dass Weyershausen seine Cartoons nicht vorliest, sonst wäre er sicherlich bei den Leserunden von Crueger und Burgwächter dabei. Auf die kann man sich freuen, das wird ein Spaß. Und hoffentlich beliebt genug, um das Trio zu einem dritten Streich zu animieren. Vielleicht „Braunschweig‘sche Liebelei“?
Edit: Das Buch erscheint am 4. Oktober 2022, kann aber bereits vorbestellt werden!