Von Guido Dörheide (05.09.2022)
Erinnert sich noch jemand an diesen rothaarigen Rauschgiftverbraucher, der in den frühen 80ern bei Metallica rausgeflogen ist und sich dann jahrzehntelang an dieser Schmach abgearbeitet hat? Rrrrröööchtöööch – die Rede ist von Dave Mustaine, der kurze Zeit nach Metallicas Debüt mit seiner eigenen Band Megadeth genügend heftig durchgestartet ist, dass er sich eigentlich nicht grämen müsste, kein Bestandteil von Metallica mehr zu sein – zum einen müsste er dort James Hetfield singen lassen, obwohl er selber das besser kann, und zum anderen sind Metallica, seit sie mit überragenden Massenerfolg den Mainstream erobert haben, lange nicht mehr das, wofür sie und Megadeth früher einmal standen.
Megadeth hingegen haben sich – zugegebenermaßen mit unzähligen Besetzungswechseln – zwar einiges erlaubt, was den Fan irritierte und die Zeitläufte nicht eben souverän überstand („Risk“ oder „Super Collider“ vielleicht), aber während Metallica auf gerade mal auf drei überragende, ein hervorragendes und ein gutes Album zurückblicken können, haben Megadeth sich immer wieder berappelt und nach jedem Formtief wieder überzeugend abgeliefert. Ich komme auf mindestens 13 Megadeth-Alben, die ich meinem Vater ohne schlechtes Gewissen auf eine einsame Insel mitgeben würde. Das ist wenig, verglichen mit Tausend, aber viel im Vergleich mit den kommerziell weitaus erfolgreicheren Metallica.
Mustaine ist menschlich sicherlich mindestens schwierig, aber seine Qualitäten als Rhythmusgitarrist sind über jeden Zweifel erhaben. Er ist stimmlich und gesanglich nicht der Mario Lanza des Trash Metal, aber seine herausgepresste und verärgerte Art zu singen passt in ganz hervorragender Art und Weise zur Musik, und er hat ein Gespür für Rhythmen und Melodien, die ganz hervorragend funktionieren und das Warten auf jedes neue Megadeth-Album zu einer spannenden Epoche des Hoffens auf ein neuerliches Highlight machen. Und wirklich nur ganz, ganz selten enttäuschen Megadeth. Meistens begeistern sie.
So auch auf „The Sick, The Dying … And The Dead!“. Das geht schon mit dem tollen Coverartwork los, das Bandmaskottchen Vic Rattlehead vor der Kulisse einer brennenden mittelalterlichen Stadt zeigt – sehr stimmungsvoll und hübsch in Szene gesetzt. Über eine Stunde Spielzeit hat das Teil in der Deluxe-Version, die mit zwei tollen Coverversionen am Ende aufwartet: „Police Truck“ von den Dead Kennedys (Hammer! Daves Gesang kann es mit dem ätzenden hochtönenden Geätze eines Jello Biafra natürlich nicht aufnehmen, aber der Kennedys-Spirit wird 1:1 eingefangen) und „This Planet‘s On Fire“ von Sammy Hagar, featuring Sammy Hagar, und das Teil rockt dermaßen, als hätte Mustaine tatsächlich mal gute Laune.
Dass das zu Befürchten kein Anlass besteht, machen schon die „Bring out your dead“-Rufe im Intro des titelgebenden ersten Stücks deutlich – es geht also um das angenehm unkalifornische Thema Pest bei „The Sick, The Dying And The Dead“. Als Monty-Python-Fan möchte man bei den Worten „Bringt Eure Toten raus“ schmunzeln, aber als Intro zu dem angenehm harten, aber nicht allzu schnellen Titelsong funktioniert es prima und bei einem Megadeth-Album weiß man, dass Zwischenrufe wie „Ich bin nicht tot! Ich möchte spazierengehen!“ sich nach spätestens fünf Songs als arg überoptimistisch erledigt haben werden.
So auch bei dem aktuellen Werk: Dave Mustaine ist gut in Form, seine Riffs sitzen und klingen wie von Megadeth gewohnt eher hell und schneidend denn wuchtig-donnernd, Megadave schwingt also nach wie vor das Skalpell und nicht den Vorschlaghammer. Das gibt dem Ganzen schon ab den ersten Takten einen unverwechselbaren und schön anzuhörenden Klang. Dass sich das viel bemühte „Besetzungskarussell“ im Vorfeld der Albumaufnahme wieder heftig gedreht hat, fällt musikalisch nicht allzusehr auf. Ich meine jedoch schon, beim Bass den typischen Stil von Gründungsmitglied Dave Ellefson zu vermissen, der aufgrund schmuddeliger außerehelicher Chataktivitäten von Mustaine aus der Band geworfen wurde. Am Bass wird deshalb künftig James LoMenzo, der den Job schon auf den Alben „United Abominations“ und „Endgame“ gemacht hat, zu hören sein, während der Bass auf dem hier besprochenen Album von Steve Di Giorgio von Testament eingespielt wurde. Die Ära „Chris Adler am Schlagzeug“ hat sich auch wieder erledigt, an Stelle des hauptamtlichen Lamb-Of-God-Drummers ist hier nun der von Soilwork bekannte Dirk Verbeuren zu hören. Bleibt noch Kiko Loureiro an der Leadgitarre, er ist seit 2015 in der Band und somit quasi so etwas wie ein Veteran.
Aber wurscht: Mustaine kann die Band umbesetzen, mit wem und so oft er will, solange er in der Band ist (und notfalls meine Oma an den Bongos – danke wieder einmal mehr, Mark E. Smith), ist es Megadeth und klingt auch so. Das finde ich absolut bemerkenswert und es zeigt, dass Mustaine entweder zu blöd ist, nach was anderem als sich selbst zu klingen, oder, dass er für jedes Album eine klare musikalische Vision hat, die es ihm mit egal welchen involvierten Musikvirtuosen stets umzusetzen gelingt. Mit seinen messerscharfen Trademark-Riffs und dem ebensolchem Gesang sorgt er für hohen Wiedererkennungswert bei gleichzeitig ebenso hoher musikalischer Qualität, Loureiro steuert wirklich tolle Soli bei, Verbeuren hämmert gleichermaßen schnell und präzise und spottet damit der Heisenbergschen Unschärferelation Hohn, einzig Di Giorgio erscheint mit ein wenig zu wenig wiedererkennbar und hätte sich vielleicht ruhig weniger der Mannschaftsdienlichkeit verschreiben haben sollen.
Und was außer dem Appell, unsere Toten rauszubringen, erwartet uns musikalisch auf „The Sick usw. usw.“? Zunächst einmal ziehen Megadeth auf „Life In Hell“ das Tempo geringfügig an, die Gitarre des Chefs wird richtig schnell, ohne dass die Melodie außer acht bleibt. Sowas klingt unaufgeregt und aufs erste Hören unspannend, bietet aber so viel zum Entdecken und geht dabei zu gleichen Teilen in Ohr und Nackenmuskulatur. Soo muss Thrash Metal. Mit „Night Stalkers“ und „Dogs Of Chernobyl“ folgen dann gleich zwei über sechsminütige Stücke in Folge. Kuscheln wir uns also gemütlich an die angenehm gepolsterte Rückenlehne unserer Chaiselongue oder von mir aus des in alle Himmelrichtungen verstellbaren Bürodrehstuhls, schließen die Augen – und kriegen dann Mustaines Flying-V mit Schmackes vor die Omme gekloppt: Das von Drummer Verbeuren mitgeschriebene „Night Stalkers“ ist trotz seiner Länge ein aggressiver Klopper mit einem Basspart in der Mitte, für den ich mich bei Steve Di Giorgio für meinen Satz weiter oben entschuldigen muss: Hammer! Und das ist nicht der einzige Hammer dieser zweiten Albumsingle: Der Text behandelt – wie der Titel schon sagt – das 160th Special Operations Aviation Regiment der U.S. Army, aber der Hammer steckt wie immer im Detail: Noch vor dem zitierten Basspart erzählt uns eine wohlbekannte, warme Stimme vom MH-47 „Chinook“ und anderem Militärgerät, und obwohl diese Stimme hier nicht von „motherfuckers“, sondern nur von „bitches“ singt, wird schnell klar: Hier spricht niemand anders als der inzwischen 64jährige ehemalige Infanterie-Soldat Tracy Lauren Marrow aus Newark, New Jersey: Ice-T, seit seiner Übersiedlung nach Kalifornien einer der größten amerikanischen Künstler der vergangenen 35 Jahre. In dem Song kann Mustaine seine Bewunderung für präzise und effiziente Militäroperationen ausleben, und herausgekommen ist ein ziemlich überzeugendes Stück Heavy Metal.
Dasselbe gilt für „Dogs of Chernobyl“: Mustaine setzt sich darin in eindringenden Worten mit der Reaktorkatastrophe, dem nuklearem Winter und allem, was sich daraus ergibt, in epischer Länge und Breite auseinander. Er wählt dabei eine andere Herangehensweise als beispielsweise Iron Maiden, die ja ebenfalls eine Vorliebe für das Aufgreifen historischer Themen haben. Während ich aber bei Maiden eher das Gefühl habe, die Geschichte mit ein wenig Abstand zu betrachten, vermittelt Mustaine eher ein „Mittendrin“ im blanken Horror und untermalt das durch aggressive und verstörende Klänge. Der Song beginnt ruhig mit Akustikgitarre und steigert sich schnell zu einem Inferno von Midtempo-Stakkato-Rhythmusgitarre und Mustaines gepresstem Gesang, der düstere Bilder der Reaktorkatastrophe an die Wand malt, und das ab Minute 4:03, eingeleitet von Schlagzeuggedonner, Di Giorgios wieder einmal mehr beeindruckendem Bass und Mustaines Sprechgesang und jaulenden Solo-Einlagen von Loureiro die Angst vor der Wiederholung derartiger Ereignisse in einem beeindruckenden Stück Musik festhält. Mit „Sacrifice“ geht es solide auf hohem spieltechnischen Niveau weiter, das Album hört nicht auf, Laune zu machen.
Mit „Junkie“ leisten sich Megadeth dann eine Verschnaufpause, der Text hat einigermaßen was zu sagen, die musikalische Darbietung ist eher mehr Filler und weniger Killer, aber weiterhin auf hohem Niveau. Auf diesem geht es weiter und kurz vor Schluss erreicht das Album mit „Mission To Mars“ einen weiteren Höhepunkt: Das Stück beginnt ruhig mit elektronischen Spielereien und ein wenig Akustikgitarre, dann kommt die Elektrische dazu und hebt an, an den Gehörknöchelchen des Rezipienten zu sägen. Auf einmal wird ein Schalter umgelegt und der Song rockt, Mustaine singt höchst routiniert davon, dass er ein Astronaut sein möchte. Ist ja auch verständlich: Gründer, Frontmann und Gitarrist einer der besten Bands der Welt oder Astronaut – nee is klar Dave, hätten wir nicht anders entschieden… Hier kommt das große musikalische Umkippen erst bei Minute 3:30: Drum-Gewitter, Sprechgesang, klangliches Pandemonium, am Ende geht die Mars-Mission in die Hose, Mustaine zitiert mit „Rust In Peace“ und „Peace Sells“ zwei der größten Megadeth-Hits, dann wird die Erde pulverisiert und die/der Hörende freut sich aufs nächste Stück, vielleicht wird es da inhaltlich weniger düster.
Auf „We‘ll Be Back“ gibt Megadave noch einmal eines seiner Stakkato-Riffs zum Besten, mit denen er schon seit „Killing Is My Business, And Business Is Good“ aus dem Jahr 1985 begeisterte – und auch sein Gesang würde sehr gut auf dieses Album gepasst haben. Kiko Loureiro schwingt mit seinen Soli nochmal die ganz große Abrissbirne, Mustaine schreit noch ein wenig weiter (Pustekuchen mit „inhaltlich weniger düster“ – Krieg, Tod und Vernichtung bleiben die bestimmenden Themen) und paff paff paff paff – die reguläre Spielzeit ist vorbei und wir kommen langsam runter mit den beiden Bonustracks.
Es ist dies fürwahr ein großes Jahrzehnt für den traditionellen Thrash Metal der 1980er Jahre und es erfüllt mich mit tiefer Freude, dass auch Megadeth mit ihrem neuen Album weder langweilen noch enttäuschen, sondern wie fast immer in ihrer fast 40jährigen Karriere wieder einmal aufs Neue mitreißen und begeistern können.