Von Guido Dörheide (10.08.2022)
Keine andere Band hat dem deutschen Punkrock so ihren Stempel aufgedrückt wie Slime in den 1980er Jahren. „Deutschland“, „Polizei/SA/SS“, „Bullenschweine“, „Linke Spießer“, „Störtebeker“ waren Statements gegen den damaligen Zustand der Republik und setzten in etwas roherer Sprache fort, was Ton Steine Scherben einst begonnen hatten. Gleich vorab muss ich klarstellen, dass ich – nicht nur, weil ich seit eh und je von unserem Staat überaus angemessen alimentiert werde – unsere Republik im Großen und Ganzen sehr in Ordnung finde und großes Vertrauen in die Stabilität unserer FDGO habe, auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin, was unsere Regierenden den ganzen Tag so treiben.
„D* muss sterben, damit wir leben können“ oder „Wir wollen keine Bullenschweine“ würde ich aber beim besten Willen heute nicht mehr einfach so unterschreiben. Die Zeile „Schwarz ist der Himmel, rot ist die Erde, gold sind die Hände der Bonzenschweine“ dagegen ist deutlich besser gealtert, finde ich, aber genug von der Vergangenheit:
Slime sind nach mehreren Auflösungen und Reunions immer mit der Zeit gegangen, haben 1994 mit „Schweineherbst“ einen zeitlosen Klassiker des Punkrock veröffentlicht und auch die Veröffentlichungen der letzten Jahre wie „Wem gehört die Angst“ haben mir gut gefallen. Mit dem Ausstieg des Sängers Dirk Jora, „Diggen“, im Jahr 2020 schienen die Tage der Hamburger Institution dann endgültig gezählt. Dann machte die Nachricht die Runde, dass mit Tex Brasket ein neuer Sänger gefunden wurde, es wurde von vielen Fans diskutiert, ob es angemessen sei, ohne Diggen unter demselben Namen weiterzumachen, aber da halte ich es mit Mark E. Smith („If it‘s me and your grandma on bongos – it‘s still The Fall.“): Solange Elf Mayer die Musik schreibt und Gitarre spielt, ist es immer noch Slime. Auch Christian Mevs an der zweiten Gitarre ist bereits seit 1980 dabei und Bassistin Nici und Schlagzeuger Alex Schwers sind immerhin auch seit der letzten Reunion, also seit 2010 an Bord. So lange halten viele Bands überhaupt gar nicht erst durch.
Ich wage mal die Behauptung, kaum ein Neuzugang hat jemals einer legendären, seit langem existierenden Band so gründlich seinen Stempel aufgedrückt wie Tex Brasket. Als ehemaliger Straßenmusiker und ehemaliger Obdachloser steuert er sowohl künstlerische als auch Lebenserfahrung bei, wie sie nicht besser zu einer Punkband passen könnten. Seine rauhe Stimme fügt sich hervorragend in den Slime-Kosmos ein, dass er manchmal den Hang zum Rappen hat, ist vielleicht gewöhnungsbedürftig, erweitert die stilistische Bandbreite Slimes aber in durchaus positivem Sinne (keine Angst – es gibt weiterhin keine Rap-Songs von Slime, ich meine lediglich den gelegentlichen Vortragsstil des neuen Sängers). Und Brasket versteht es, Texte zu schreiben, die sowohl persönliche, emotionale Erfahrungen sehr eindringlich transportieren als auch politische Inhalte knochentrocken auf den Punkt bringen. Ich würde sogar behaupten, dass der Mann ein apselut goldenes Händchen für weise Slogans hat, die – wie ich meine – das Zeug dazu haben, die Jahrzehnte zu überdauern und in Würde zu altern. Und – Brasket hat mit Ausnahme von „Ebbe und Flut“, der Neueinspielung eines Stücks von „Wem gehört die Angst“, alle Texte auf dem aktuellen Album geschrieben und – Hammer! – für vier Songs nicht nur den Text, sondern auch die Musik.
Um das hier mal in der gebotenen Ausgiebigkeit zu würdigen, starte ich mal eine Track-by-Track-Review, die jeweils mit einer oder zwei meiner Lieblingszeilen aus dem jeweiligen Stück beginnt:
1 – Komm schon klar
„Ich hab keine Wahl – es geht ums nackte Überleben“ / „Geh‘ schon mal vor, ich komm schon klar.“
Brasket berichtet über ein erbarmungsloses Leben auf der Straße, was er in den Strophen durch atemlose, hastige Aneinanderreihungen von Worten untermauert, dabei donnert Nici schön bedrohlich auf dem Bass herum – im Refrain wird es melodischer und, wie ich finde, dann klingt das Stück 100% nach Slime.
2 – Heute nicht
„Ich lebe noch – geh‘ mir bloß außem Weg, sonst renne ich Dich um, ich werd mein‘ Weg weitergeh‘n.“ / „Dämonen gefickt und dem Teufel ans Bein gepisst“
Der Song startet mit einem schön melodischen Punkrockriff, das man schon oft gehört hat, von denen es aber gar nicht genug geben kann. Der Song handelt von jemandem, der ganz unten ist, aber nicht aufgibt, der Refrain endet immer mit „Sterben will ich heute nicht“. Eine ganz simple Botschaft, ein ganz starker Song.
3 – Nix von Punkrock
„Und ich brauch‘ keinen Rat von einem scheiß Anal-Phabeten“ / „Erzähl Du mir nichts von Punkrock, den Scheiß will keiner hör‘n, ich scheiß‘ auf Deine Meinung“
Brasket rechnet mit Poser-Typen ab, für die Punk das ist wie „GTI“ für die Volkswagen AG in den 1990er Jahren: Nichts weiter als eine Ausstattungslinie, die gegen Aufpreis verfügbar ist. Braskets Wut ist dabei angenehm anzuhören und gut nachzuvollziehen.
4 – Safari
„Du bist hier nicht auf Safari – jage nichts, was Du nicht töten kannst“
Hier regiert in den Strophen wieder Braskets atemloser Rap-Rhythmus. Er rechnet mit Neonazis ab, grenzt sich dadurch von diesen ab, dass er aus gut verständlichen humanitären Erwägungen heraus für „seine Nachbarn“ kämpft, während die Angeprangerten vorgeben, dass ihr Kampf „für Deutschland“ geführt würde – während sie trotz aller Ausländerfeindlichkeit heimlich Döner essen. Brasket hat wahrlich ein Gespür für eindringliche, deutliche und für jedermann nachvollziehbare Bilder.
5 – Bester Freund
„Ich bin seit drei Tagen wach – ich ernähre mich von Adrenalin und Luft und Wut und Liebe und so‘m Scheiß“ / „Mein bester Freund, mein größter Feind, ich wär‘ so gern mal wieder clean – mein bester Freund, mein größter Feind – Amphetamin“
So viele Bäume – weit und breit kein Wald, Drogen sind nichts Gutes, eher im Gegenteil, aber davon loszukommen ist mehr als schwer. Der Song wird getragen von typischem Elf-Mayer-Uptempo-Punkrock, trotzdem ist es kein „Fun Punk“, sondern ein nachdenkliches Stück über die Sucht.
6 – Taschenlampe
„Lass die Taschenlampe aus, damit sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnen können, bevor wir reingeh‘n“ / „Ich rufe hiermit offiziell zur Straftat auf, und wenn Ihr mich dafür verhaften wollt, nehm‘ ich die Strafe gern in Kauf“
Hier verlassen wir das musikalische Terrain Elf Mayers – dieser Song stammt zu 100% von Brasket und hört sich auch so an. Es geht es um das Leben auf der Straße, zu früh verstorbene Weggefährten, die Stadt, den Müll und den Tod und am Ende ruft Brasket offen zur Hausbesetzung auf. Dazu klampft er eindringlich auf der Akustikgitarre, wie man es aus den Videos auf seinem Youtube-Kanal kennt und liebt. Die Musik ist weniger Punk und mehr Deutschrock – aber von der allerbesten Sorte und musikalisch über alle Zweifel erhaben dargeboten. Wahrhaft kein Punkrock – aber musikalisch sowas von überzeugend und mitreißend-melancholisch, sowas hätten Slime ohne Brasket nie hinbekommen, und es ist toll.
7 – Mea Culpa
„Fahr‘ zur Hölle – ich zeig‘ Dir den Weg – dein Arsch gehört jetzt mir!“
Eine Abrechnung mit dem systematisch begangenen und danach noch systematischer verschleiertem Kindesmissbrauch innerhalb der katholischen Kirche – vielleicht primitiv, aber auf jeden Fall mit deutlich zu spürender Wut und Fassungslosigkeit auf den Punkt gebracht.
8 – Outlaw
„Was weißt Du schon von Angst und von Adrenalin – sowas hast Du noch nie geseh‘n“
OK – „Ich bin immer noch ein motherfuckin‘ Outlaw“ ist jetzt nicht gerade die lyrische Sternstunde dieses Albums, aber der Song, in dem Brasket seine Persönlichkeit vor dem Hintergrund der Erfahrungen seines Lebens beschreibt, geht auf jeden Fall gut nach vorne und macht Laune beim Hören.
9 – Sein wie die
„Doch aus der Scheiße wächst die Blume.“ / „Die Geister, die ich rief, machen ihr Ding.“ / „Jede Nacht hat ihren Preis, jeder Tag ist ein Geschenk.“ / „Du musst mir nur eins versprechen: Lass uns niemals so sein wie die.“
Hier wieder ein Song, der komplett aus Braskets Feder stammt – und wieder ein Highlight. Der Song beginnt mit einer Straßenmusikantenakustikgitarre, Brasket krächzt und trifft dabei wieder jeden Ton, Melancholie zieht sich durch das Stück, aber auch Hoffnung . Im Hintergrund spielt Elfs Gitarre ein wirklich schön melodisches Riff. Und die Abgrenzung von denen, die Brasket nicht eben schätzt, fasst er in schöne Worte. Dazu wieder kein Punk, aber guter Rock‘n‘Roll mit leichten Folk-Einschlägen. Angepisst und eingängig zu gleichen Teilen.
10 – Weil fickt Euch alle
„Fickt Euch alle! Wenn Dich irgendjemand fragt, warum, dann sag: Weil fickt Euch alle!“
OK, dass lasse ich mal so stehen. Geht trotzdem ebenfalls schön nach vorne, das Stück. Und zeigt, dass Tex Brasket einen Text auch mal eben so ohne nachzudenken aus dem Ärmel schütteln kann, denke ich mal.
11 – Weggefegt
„So viele Jahre in der Scheiße und ich bin immer noch hier. Läuft bei mir.“
Der nächste reine Brasket-Song, diesmal ohne Akustikgitarre. Ein Sauflied auf das Leben. Läuft nun endlich bei Tex, und wer will es ihm verdenken.
12 – Wut im Bauch
„Halt Dich fest an meiner Liebe – und dieser Scheißwut im Bauch.“ / „Friede den Hütten, Krieg den Palästen – Korruption und Heuchelei. Friede den Hütten, Krieg den Palästen – sag mir, wer ist hier schon wirklich frei?“
Alles gut bei uns im Westen – obwohl, wohl eher nicht. Ein zeitloses Stück Klassenkampf, vielleicht etwas beliebig, aber Slime sind mit Inbrunst bei der Sache – das zählt.
13 – Auf die Jagd
„Ich glaub in dem Scheißzaubertrank war gar nichts drin – das war nur Rosmarin!“
Hier wieder Text und Musik von Brasket – schnell, eingängig und der Gesang schön rauh und leidenschaftlich. Teilweise kryptischer Text. Guter Song.
14 – Lieben müssen
„Ich turn hier oben rum, als ob ich sowas wie‘n Held wär. Die Wahrheit ist, mich zu lieben fällt mir selbst schwer.“
Hier wieder tolle Gitarrenmelodien von Elf und Christian. Tex lässt die ganze Zeit nicht locker und singt und singt von Zusammenhalt und Sachen von früher, die ihm Leid tun, von jedem Herz, dass er gebrochen hat, und ich glaube, dafür muss und kann man ihn ein wenig gern haben. Selbstreflexion, Baby.
15 – Scheiß Beerdigung
„Tu was Du tun musst, es ist Deine scheiß Beerdigung, ich bin raus. Heute Nacht bist Du allein.“
Der Song beginnt schnell und nimmt dann im Refrain nochmal richtig Fahrt auf. Und rechnet ab mit alten Mustern aus der Vergangenheit, der Protagonist hat es geschafft, der, an den er sich mit seinem Text wendet, hingegen noch nicht. Und wird auch vom Protagonisten nicht mehr unterstützt, wobei auch immer. Definitiv kein fröhliches Lied.
Fazit: Slime sind in keinster Weise in Richtung Deutschrock abgedriftet, „Zwei“ ist ein zeitgemäßes und gleichermaßen archaisches und anarchisches Stück Musik, immer noch Slime, mit guten neuen Impulsen, und macht vor allem beim Hören so richtig Spaß. Textlich ergiebig und tiefgründig wie nie. Und wird bei einer guten Stunde Spielzeit nicht langweilig – Slime haben in meinen Augen/Ohren und in meinem Bauch die Weichen gestellt, nicht länger nur Punklegende der 80er und 90er, sondern weiterhin relevant zu sein. Anspieltipp und Kaufgrund mit gleich vier Textzitaten: „Sein wie die“.