Von Guido Dörheide (21.07.2022)
Wie schon mein Großonkel Gerd immer sagt: „Man kann alt werden wie ne Kuh und lernt doch immer noch dazu!“ Onkel Gerd – wenn Du das hier liest: Herzlichen Glückwunsch zu deinem 94. Geburtstag am ersten Juli, ich hatte mehrmals versucht, Dir zu gratulieren, aber Du bist nicht rangegangen.
Seit ungefähr 1987 verbringe ich mit nichts so viel Zeit wie damit, mir gute Musik anzuhören, und seit ungefähr 2019 hatte ich den Eindruck, dass momentan eigentlich nichts, was mir gefällt, unter meinem Radar durchflöge, und ausgerechnet dann kommt mein Freund Frank um die Ecke, schickt mir einen Youtube-Link und sagt, wenn ich darüber mal was schreibe, würde auch er es lesen.
Alsdann, gehen wir es an: Der Link war „Vibe Ride“ (2019) von Die Cigaretten aus Hamburg, von denen ich tatsächlich nie zuvor etwas gehört hatte. Ja klar, von Zigaretten hatte ich schon mal was gehört und habe in der Tat ein Problem damit, widerstehe jetzt dennoch, aber sonst echt: Nichts gehört. Lieber Frank, ich hoffe, Du bleibst hier jetzt trotzdem am Lesen dran, auch wenn ich nicht „Vibe Ride“ rezensiere, sondern das letztjährige Werk „Emotional Eater“.
Wir alle – mit Ausnahme der Nichtraucher:innen (m/w/d) – wissen, wie Zigaretten schmecken – aber wie hören sie sich an? Nun: Der von mir über alle Maßen von hier bis Meppen geschätzte Herr van Bauseneick meinte beim ersten Reinhören, sie klängen wie die ganzen 90er-Jahre-Indie-Bands aus Ostwestfalen-Lippe (und Mijnheer van B weiß, was er sagt, wenn er sagt: „LIP ist OWL!“). Ich hatte diese ganzen damaligen Bands aus budgettechnischen Gründen links liegen gelassen und daher ist der Cigaretten-Sound für mich jetzt völlig neu und frisch: Es schrammelt sehr garagenmäßig, anhand des charakteristischen Gesangs, der so gelangweilt klingt, dass er schon wieder beinahe überambitioniert daherkommt, der Gitarren und der über allem liegenden passiv-aggressiven Melancholie bleibt die/der Hörende immer gewahr, dass es sich bei allen Songs um diejenigen von ein- und derselben Band handelt, und dennoch gibt es Stilwechsel zuhauf, jeder Song klingt deutlich anders, die Musik reißt jede:n mit, die/der damals Grunge, Hamburger Schule und sagen wir mal die Pixies gehört hat. Wie – ich bin ein Kind der 90er Jahre? Ja, mag wohl sein. Und hier jetzt wie gewohnt Track-by-Track:
Mit dem Titelstück „Emotional Eater“ beginnt das Album stark: Gitarre und Bass indierocken trocken vor sich hin, das Schlagzeug klingt scharf und hochtönend, und dann ertönt der Gesang; viel tiefer, als ich es anhand des instrumentalen Kraches für möglich gehalten habe, schraubt sich dann zum Cigaretten-üblichen (s.o.) ambitioniert-gelangweilten Genöle hoch. Einstieg schon mal gelungen. „Glastonbury“ schrammelt dann noch mal um einiges mehr als der Opener, setzt auf mehr heisere Schrille im Gesang und eine vorwärtstreibende Melodie, die im Punkt verhaftet und wahrhaft sehr gut ist.
Anschließend kommt einer meiner slogantechnischen Textfavoriten: Das 1994-Tocotronic-mäßig vor sich hin schlurfende „Immer ist irgendwas“. Vielleicht haben Die Cigaretten auch mehr gelacht, als nicht immer irgendwas war, zum Beispiel letztes Jahr im Sommer. Jetzt ist aber 2021 (sorry, eher habe ich es mit diesem Artikel nicht auf die Reihe gekriegt, da ich von der Existenz der Band nichts wusste; sagen wir mal, Frank ist Schuld), und wenn man sich gerade erst hingesetzt hat, ist schon wieder was. Großartig.
Bei „Kopf schief / Deine Freunde haben sich längst dran gewöhnt“ sagt der Titel schon alleine alles – doch lernst Du neue Leute kennen, ist es ein Problem. Schwankt schön zwischen rhythmuslastig minimalinstrumental und Krach. „Superallein“ ist dann sowas wie Element Of Crime, nur mit TripHop, Noise und nur 45 Sekunden lang. „So solls sein“ holt dann – auch gesangstechnisch – auch die Superchunk-Fans unter uns ab, auch vom Songaufbau, und dann wartet man auf den lyrischen Tritt ins Gesicht, um dann am Ende festzustellen: „So soll es sein“. Kein Tritt.
Anschließend folgt sozusagen der Hammer, die Geschichte von Amboss: „Danke Mama, dass Du mich abgetrieben hast. Es war nicht richtig, und es hat auch einfach nicht gepasst. Ich weiß, die Entscheidung fiel Dir nicht so leicht. Deswegen hoff‘ ich, dass Dich das hier erreicht. Danke, danke Mama!“ Musikalisch klingt es für jemanden wie mich sehr schön – ich lasse daher den Text hier mal so für sich stehen.
Auf „Ich hab kein Bock mehr mit Dir rumzuhängen“ klingt der Typ mit dem Turnschuh an, der, ähem, ja, keinen Bock mehr hat, mit Dir rumzuhängen. Viel RATM-Gefühl trotz garagenmäßigerem Sound. „Schwimmbad“ ist ein tolles Akustik-Stück mit viel Hall im Gesang, bei dem es mir jetzt zu anstrengend ist, den Text nachzuhören – aber klingen tut es gut. Anschließend ein überflüssiges Klassik-Interlude und dann nochmal bedeutungsschwer „Galaktika“ (nach dem blauen Typen Elvis neulich schon die zweite „Hallo Spencer“-Referenz von diesem Rezensenten hier. Ja, wir Rezensenten sind wie Enten, aber lassen wir das.) Das Stück schwankt zwischen ruhig und rhythmisch und 90er-Jahre-Schrammelindierefrain und stimmt schön auf den Abschlusstrack „Champagner“ ein, der das Album ruhig und mehrstimmig ausklingen lässt.
Was bleibt hängen von „Emotional Eater“? Hier ist absolut nichts langweilig oder überflüssig, kein Stück wurde hinzugefügt, um eine normale Albenlänge vollzukriegen (was man mit 32:13 auch nicht wirklich geschafft hat), es lohnt sich an jeder Stelle, in die Texte reinzuhören, und der Sound und der unproduziert anmutende Klang sind so richtig schön aus der Zeit gefallen. Danke, Frank!