Von Matthias Bosenick (22.06.2022)
Wenn Noiserocker andere Stecker einstöpseln: Das neue Solo-Album von Ivan Nahem aus New York, der seit Ende der Siebziger in diversen Bands und Projekten von Ritual Tension, Carnival Crash bis Swans die stromgitarrenbefeuerte Lärmmusik mitgestaltet, fördert eine überraschende andere Seite des Yoga-Lehrers zutage: „Crawling Through Grass“ ist Ambient, und wer Ambient weitgefasst kennt, weiß, dass diese chillige musikalische Spielart auch Lärm beinhalten kann, nur sanfter, gern als Drone getarnt, mit Field Recordings und Improvisationen versetzt, mitnichten ein langweiliger Soundteppich mithin, und genau so verhält es sich bei diesem Album. So richtig solo ist es auch nicht, Nahem holte sich teilweise via Internet satte zwei Handvoll Gäste dazu, die mit ihm durchs Gras krabbeln. Und wie schön es dort ist!
Tatsächlich, im Eröffnungsstück ist ein Pfeifen zu hören, und noch besser: Es nervt nicht. Der Rest drumherum ist nämlich unfassbar chillig, und doch fällt diese pfiffige Einlage nicht unangenehm auf. Ein bemerkenswerter Einstand. Die sieben Tracks fußen allesamt auf Synthie-Effekten sowie auf klaren bis verfremdeten Instrumenten wie Gitarre und Harmonica, Bass und Percussion, alles vornehmlich auf Fläche ausgelegt, auf Pulsieren, zum Teil auf Wiederholung, ganz klar auf Atmosphäre. Klangschalen erklingen, Geräusche wie vom Regenmacher, was man halt so von Yoga-Mucke kennt, und auch Keyboardsounds wie aus der alten Berliner Schule sowie gesampelte Stimmen, teils von Google, teils von Freunden aus aller Welt.
Aber nicht nur: „Shikantaza“ überrascht mit klaren Gitarrenanschlägen, „The Sea, The Beach, The Jungle“ hat die artifizielle Anmutung orientalischer Musik und ist noch das figürlichste Stück des Albums, „Wheels Within Wheels“ zeichnet ein akustisches Bild einer Straßenszene irgendwo, vermutlich in New York, bis es in Akustikgitarre mit dunklem Gesang mündet. Höhepunkt und Abschluss ist „51st St Śavasana“, mit neun Minuten Dauer das längste Stück des Albums, in dem es verhalten klimpert, klickert, zischt, murmelt, in dem befremdliche Geräusche einander abwechseln, in dem verhallte Instrumente wie von Ferne herübergeweht kommen, mit dem man sich auf eine Reise begibt, von der man eigentlich gar nicht wieder zurückkehren mag. Hört man das Album halt noch einmal.
Also, das reine Synthie-Plucker-Melodie-Ambient nach Moby-Art bekommt man hier gottlob nicht, dafür ist Nahem viel zu experimentell. Nicht ganz so wild wie auf dem Vorgänger „The Kiss“, das Nahem 2017 bereits unter seinem Alias ex->tension herausbrachte. An „Crawling Through Grass“ sind unzählige Freunde beteiligt, allen voran Bruder Andrew Nahem an der Gitarre und am Album-Design sowie Allrounder Gregg Bielski, der bereits maßgeblich „The Kiss“ mitgestaltete und hier Samples beisteuert. Ebenfalls dort wie hier zu hören war Nahems Ritual-Tension-Mitmusiker Michael Chockley an den Congas. Mit an Bord ist hier auch Gitarrist Norman Westberg, mit dem Nahen bereits seit Carnival Crash und den Swans zusammenarbeitet. Die polnischen Wortbeiträge stammen von Jadwiga Taba von Nac/Hut Report, und da muss der glückliche Rezensent einmal kurz aus dem Schatten treten: Den Kontakt verdanken die beiden ihm. Weitere Mitmusiker sind Jon Fried (The Cucumbers) an Banjo und Bass, der seine Gattin Deena Shoshkes gleich für den Mix mitbrachte, Helen Nulty mit ihrer Stimme sowie Keyboarder Marc C (Live Skull). Auch am Artwork sind Freunde beteiligt, das Cover stammt von Jane Magdalena Bauman und das Foto auf der Rückseite von Richard Dweck. So etwas nennt er also solo!
Vom Sound alter Noiserock- und Postpunk-Helden wie Ritual Tension und Carnival Crash ist „Crawling Through Grass“ also meilenweit entfernt, doch Nahem kündigt an, dass dies ein einmaliger Umweg gewesen sein soll und dass er bereits an neuer Musik arbeitet, die alte Musik aus seiner langen künstlerischen Laufbahn aufgreift. Ob man nun das vorliegende Album tatsächlich als Grundlage für Yoga-Übungen verwenden kann, sollten Yogis beantworten; alle andere können gesichert eine abwechslungsreiche Reise durch den eigenen Geist antreten.