Von Guido Dörheide (31.05.2022)
Es war 1994, als ich mir auf dem Roskilde-Festival das Konzert von Elvis Costello ansah und -hörte, und das blies mich schier weg. Auf der Bühne stand ein in höchstem Maße charismatischer Lakritzbrillenträger mit Gitarre, umringt von talentierten Mitmusikanten, und gab – neben Klassikern en masse, die ich damals leider alle noch nicht kannte – sein damals aktuelles Album „Brutal Youth“ zum Besten und zog damit die Audienz in den Bann, als gäbe es kein Morgen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass damals auch nur irgendjemand, der „Brutal Youth“ noch nicht im Regal zu stehen hatte, nach der Rückkehr aus Roskilde, nach mehrmaligen Duschen und ausgiebigen Ausschlafen NICHT in den Plattenladen seines Vertrauens gestürmt ist, um dieses Werk käuflich zu erwerben. Hashtag Rückblende Ende, ich habe bei der Rückkehr aus dieser Zeitreise peinlichst darauf geachtet, auf kein Insekt zu treten, weil das unter Umständen die Zeitläufte dergestalt perforieren könnte, dass es entweder den Künstler oder den Rezensenten heute nicht mehr geben könnte. Was schade wäre.
Auch im 45. Jahr nach Costellos unglaublich überwältigenden Debüt „My Aim Is True“ mit dem immer noch in seiner maximalergreifenden Schlichtheit und der schieren Wucht dieser brüchigen, aber dennoch kraftvollen Stimme bestechenden „Alison“ („Alison – I know this world is killing you – Oh Alison, my aim is true“, mal ehrlich, wer da nicht heult, ist ein blöder Wichser oder hat das Lied nie gehört. Und wie könnte man über etwas heulen, das man nie gehört hat? Hach herrje, Banausen allüberall!) [der Rest des Satzes fehlt, mbb]. Jetzt ist Costello 67 Jahre alt, sieht vom Prinzip immer noch so aus wie 94 in Roskilde, und seine Stimme sticht immer noch aus der Masse der erwachsenenbezogenen Adult-oriented-AOR-Rock-Bands heraus wie die sprichwörtliche Teufelsmauer aus dem nordöstlichen Harzvorland bei Timmenrode.
Hier aufzuzählen, was Costello (Declan Patrick MacManus heißt der Spaßvogel eigentlich, Costello ist der Geburtsname seiner Mutter und Elvis war dieser blaue Typ mit der gelben Nase bei „Hallo Spencer“) außer seinen eigenen Songs gemacht hat – die unvergessene Zusammenarbeit mit Paul McCartney auf „Flowers In The Dirt“, die Produktionsarbeit bei „Rum, Sodomy & The Lash“ von den Pogues, mit deren Bassistin er liiert war, selbst bei Diana Krall habe ich immer ihren charismatischen Lebensabschnittsbegleiter rausgehört, obwohl er an deren Werken nicht beteiligt war – spooky, eh?
Also: Wie sieht es aus mit „The Boy Named If“ – so rein in künstlerischer Hinsicht? Wir – und das bin in diesem Falle ich – der Rezensent – sind uns einig: Costellos letztes Jahrtausendwerk war „Brutal Youth“ – vorher gab es einen richtigen Klopper nach dem anderen mit seiner legendären ersten Begleitband, den Attractions – auf „My Aim Is True“ folgten „This Year‘s Model“ (Hammer!), „Armed Forces“ (Hammerhammer!) und „Get Happy“ (Hammerhammerhammerhammer), einiges andere und irgendwann, also zwei Jahre später „Imperial Bedroom“ (Presslufthammerhammerhammer!). „Punch The Clock“, „Spike“ – hier jetzt Namedropping zu betreiben wäre wie die sprichwörtlichen Krähen in die Bäume der Herderstraße zu tragen – man kann sich vorstellen, wie das kleine rote Auto am Morgen aussieht. Elvis C. hat also mehr apselut unsterbliche Klassiker herausgebracht, als ziemlich viele Musiker überhaupt Alben veröffentlicht haben.
Und „The Boy Named If“ schlägt sich vor dem Hintergrund dieses Lebenswerks nicht nur einigermaßen gut, sondern geradezu beachtlich. Es enthält alle Trademarks, die wir (also ich) bei Costello hören wollen: Allen voran diese Stimme – reinhören bitte bei „Paint The Red Rose Blue“ – das ist diese Stimme, die ich hier so hart feiere. Ich gehe hier nicht auf alle Stücke ein, was ich mir nachzusehen bitte, aber gleich zu Anfang bei „Farewell OK“ haut Costello der/dem Hörenden (m/w/d) dermaßen den Rock‘n‘Roll um die Ohren, dass man fast glauben könnte, er hätte ihn erfunden. Darauf folgt das Titelstück, etwas ruhiger, auf dem Costello seiner Stimme die volle Bandbreite einräumt – von heiserem Krächzen bis hin zu stadionfüllendem Croonen – er holt uns da ab, wo wir stehen, je nachdem, ob wir morgens oder abends da stehen, und ob nüchtern oder eher recht fertig.
Das Album besteht nicht nur aus Killern, enthält aber auch keine richtigen Filler, einiges ist „Costello, so wie wir (also ich) ihn hören wollen“, auch wenn es kein Klassikerpotential hat, aber das kann man dem Mann nicht übelnehmen, weil er immer wieder mit Krachern wie „My Most Beautiful Mistake“ um die Ecke kommt, die auch locker auf einem der Trademark-Classic-All-Time-Favourite-Attractions-Alben Platz gefunden hätten. Super Stimme, super Songwriting, super Alles, jederzeit gerne wieder!
Und die Imposters schlagen sich als Begleitband auch wirklich großartig – man merkt trotz aller musikalischen Genialität, die Nieve, Thomas und Thomas bei den Attractions in die Waagschale geworfen haben, dass es Costello immer gelingt, hervorragende Mitmusiker um sich zu scharen, die seine musikalische Vision in ihn ihm seinen Sinne umsetzen und das Ding dann am Ende reinmachen.
Herausstechen tut für mich nochmal „Trick Out The Truth“, das in seiner Jazzigkeit und musikalischen Zurückgenommenheit Costello die Möglichkeit gibt, die volle Bandbreite seiner stimmlichen und songwriterischen Einzigartigkeit so viel Raum zu lassen, dass man (also ich) denkt: „Oh wow! Hammer!“ Und mit „Mr. Crescent“ verabschiedet der Meister das Publikum eingängig, melodisch und würdevoll aus seinem neuesten Album und man (also hier nochmal wieder mal ich) denkt „Wenn der jetzt weiter so macht, könnte er ewig so weitermachen“.
Hier nun also mein Fazit: Elvis Costello langweilt nicht, liefert das ab, was man von ihm hören will, entwickelt viel Liebgewonnenes liebevoll weiter und macht auf eindrucksvolle Art deutlich, dass er anscheinend (das heißt, dass es so zu sein scheint, wie es scheint, ansonsten stünde hier „scheinbar“) nicht vorhat, mit einem mittelmäßigen Alterswerk zu nerven. Ich bin erleichtert und begeistert!