Von Guido Dörheide (10.03.2022)
Ich weiß nicht, wieso ich Euch so hasse, Fahrradfahrer dieser Stadt. Dafür und für so viele andere Textzeilen habe ich Tocotronic in den 90ern gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Nach dem ersten selbstbetitelten Album (Tocotronic – das weiße Album, 2002) und spätestens nach „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005) habe ich dann gedacht, jetzt kann ich mit deren Stil nicht mehr so recht was anfangen, und habe die Band komplett aus den Augen verloren.
Mit „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ haben mich Tocotronic jetzt zurückgeholt ins Lager ihrer Fans. Was für ein Song – sowohl textlich als auch musikalisch ein ziemlicher Monolith des gehobenen Indie-Rocks (this one goes out to the Oberstudienrat – wie bereits per SMS angekündigt – danke für dieses tolle und persönliche Geschenk!).
Musikalisch haben Tocotronic nicht mehr viel von ihren kratzig-schrammeligen LoFi-Anfängen, aber – und das hätte ich nicht gedacht – sie sind immer noch als typisch Tocotronic („Tockotrrronitsch“ – wie Herr van Bauseneick sie immer unnachahmlich ausspricht) zu erkennen. Ja, klar, es kracht und kratzt nicht mehr wie weiland in den 90ern, dafür jingelt und jangelt es, bisweilen schrammelt es, die Melodien sind einfach, effektvoll und bisweilen hypnotisch geraten, und erfreulich manchmal orientiert sich die Gitarrenarbeit am John Martin Maher der 80er Jahre.
Und textlich wird keine Peinlichkeit ausgelassen, ohne dabei peinlich zu werden. Mal ehrlich: „Nie wieder Krieg, keine Verletzung mehr, nie wieder Krieg, das ist doch nicht so schwer“ – kann man sowas singen (außerhalb der Weihnachtsbäckerei), ohne dass es peinlich, Verzeihung: saupeinlich wird? Ja. Man kann! Ich weiß nicht, wie, aber der Text des titelgebendenden Albumopeners funktioniert. „Komm mit in meine freie Welt“ ist noch einen Tacken besser – jede Strophe beschreibt die absolute selbstgemachte Unfreiheit und man weiß nicht, warum der/die Hörende im Refrain aufgefordert wird, mit in die freie Welt des Ich-Erzählers zu kommen – geil! Und wie schon geschrieben, mit „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ haben mich Dirk, Arne, Jan und Rick dann endgültig wieder auf ihre Seite gezogen. Der Titel spielt mit „Youth Against Fascism“ (1992) von Sonic Youth, der Song klingt komplett anders und haut trotzdem in eine ähnliche Kerbe, triggert dieselben Synapsen oder wasauchimmer.
Textlich gibt es ohnehin viel zu entdecken und viel zum Schmunzeln. „Ich gehe unter“ heißt ein Stück, und im Text heißt es: „Ich gehe unter ferner liefen in die Geschichte ein“. Groß. Das macht vergessen, dass manche Stücke (wie z.B. „Liebe“) eher scheiße sind und unter ferner liefen in die Geschichte der größten Tocotronic-Stücke eingehen werden.
[Anmerkung von van Bauseneick] Von der „serbischen Band Tocotronič“ sprachen Stermann und Grissemann vor über 20 Jahren auf FM4, von ihnen hab ich das geklaut.