Von Matthias Bosenick (22.12.2021)
Streicht man das Brimborium weg, bleibt: ein Drama um Schuld und Nicht-Vergebung, und zwar ein zähes, anstrengendes, langweilig gefilmtes. Dieses Brimborium nun rettet zwar einiges, macht aber leider keinen guten Film aus „Annette“: Die Mael-Brüder Run und Russell, als Pop-Duo seit Jahrzehnten unter dem Namen Sparks weltbekannt und gefeiert, schrieben das Drehbuch für dieses Musical, das „Holy Motors“-Wahnsinnsknabe Leos Carax mit Marion Cotillard und Adam Driver umsetzte. Eine grandiose Ausgangslage, die nach dem brillanten Intro leider verpufft. Viele bemerkenswerte Details retten diese bald zweieinhalb Stunden Elend nicht.
So fröhlich, wie das Filmteam trällernd und tanzend den Film eröffnet, mit einer an den Betrachter gerichteten Botschaft und frei vom Kontext, dafür begleitet von den Sparks, bleibt die Geschichte leider nicht. Der furiose Auftakt ist ein Blender, den Spaß würgen die Sparks und Carax in der Folge gehörig ab, der Humor fährt nahezu komplett auf Null. Die Handlung ist aber auch dünn, die lässt sich knapp zusammenfassen: Künstlerpaar bekommt Kind mit titelgebendem Namen, gefrusteter Mann ist auf erfolgreiche Frau eifersüchtig, billigt ihren Tod, beutet das durch einen Fluch begabte Kind kommerziell aus, tötet seinen Freund und bringt damit sein Kind gegen sich auf. Keine Vergebung. Ja, sehr dünn und nicht eben besonders, diese Handlung. Aber mit den richtigen Mitteln lässt sich ja so manche dünne Geschichte zu einem brillanten Film aufpeppen.
Diese Mittel liegen hier zuvorderst im Gesang, denn „Annette“ ist ein Musical. Sämtliche Schauspieler singen selbst, die einen besser (Cotillards Operngesang indes übernimmt Catherine Trottmann), die anderen nicht so viel besser, was selbstredend mutig und respektabel ist, und sämtliche Lieder sind natürlich von den Sparks geschrieben und zumeist mit filmscoreartiger Neoklassik unterlegt. Da entlarvt sich die Unsinnigkeit von Synchron, nebenbei, wenn quasi mitten im Dialog zwischen Deutsch und Englisch sowie fremder und originaler Stimme gewechselt wird, ganz wie bei den „Blues Brothers“, nur dass das bereits vor 40 Jahren war und man inzwischen bitte doch dazugelernt haben könnte, aber auf ausschließlich Englisch wäre der Film in Deutschland vermutlich noch schlechter zu vermarkten gewesen als ohnehin schon. Sei’s drum.
Es gibt eine Szene am Anfang, als die Eheleute Henry und Ann nachts auf einem Motorrad auf die Kamera zufahren, dann von der Kamera begleitet in voller Fahrt singen und sich nach der Strophe schnell entfernen. Das ist großartig, ebenso die Sequenzen, in denen die beiden Figuren initial bei ihren jeweiligen Auftritten brillieren, sie als Opernsängerin, er als Comedian, herrliches Bühnenbild, mitreißender Gesang, trockener Humor. Dann singen die beiden plötzlich beim Sex, ein Witz fürs Feuilleton, das sich wohl nach allen Heimlichkeiten über auch mal öffentlich gezeigte Pornos freut, und sobald dann das Baby da ist, wendet sich das gestalterische Blatt. Dieses Baby ist dargestellt durch eine animierte Puppe, was etwas an „Team America“ erinnert und was man schlichtweg schulterzuckend akzeptiert. Einen guten Witz erlaubt man sich hier, als Henry gefrustet etwas von „Babysitting“ singt und man deutlich sieht, dass die Puppenbeine auf dem Sofa unter seinem Hintern hervorschauen. Derweil ergeht sich Ann in bedrohlichen Vorahnungen, die aber reichlich verlorengehen.
Zwar gibt es im Film Sequenzen mit guten Ideen, etwa den Wald hinter der Opernbühne oder das an „Der Sturm“ angelehnte tosende Chaos beim Schiffsausflug, aber sind diese Ideen so selten, dass Carax sie unendlich in die Länge zieht und auch die Lieder dazu ins Redundante dehnt. Seine Singsequenzen sind filmisch einfallslos, einfach nur die singende Person ohne Schnitte, Details, Perspektivwechsel oder irgendeinen Kniff, wie dem mit dem Motorrad am Anfang. Es ist langweilig, den Leuten beim Elend zuzugucken. Selbst wenn Ann dann als Wassergeist auftritt, ist das zwar eine gelungene dramaturgische Idee, die aber im Geträller verpufft; daraus hätte man sehr viel mehr machen können. Der Film zeigt zwar die inhaltliche Schwere, transportiert sie aber nicht emotional. Klar, das Theater, die Bühne sind hier die Arbeitsplätze der Figuren, so stellt sich auch der Film häufig als abgefilmte Bühnenschau dar, nur anders als bei „Dogville“ gelingt es hier nicht, den Zuschauer in die Handlung und die Emotionen hineinzureißen. Dabei gäbe es hinreichend Anlass zum Mitfühlen, über ausgebeutete Kinderstars oder auf den Erfolg der Frau eifersüchtige Männer, aber mehr als einen Anriss erfahren diese aktuellen Themen nicht.
Selbst Anns Fluch ist obsolet, mit dem sie Annette ihre Stimme überträgt, um Henry zu schaden, denn der macht daraus eine epische Gesangskarriere in aller Welt, hat also auch noch einen Nutzen davon. Der Sinn hinter dem Fluch bleibt damit unklar, schließlich war Henry ja schon vorher ein Arschloch, sonst hätte er Ann nicht in Lebensgefahr gebracht, und die Selbstzweifel am Ende hätte er ebenso trotzdem haben können wie den Umstand, dass sich Annette von ihm als Mörder distanziert. Okay, die Szene ist immerhin eindrucksvoll, weil Annette sich signifikant verändert. So etwas Ausdrucksstarkes und Folgerichtiges hätte man sich den ganzen Film über gewünscht, dann hätte „Annette“ womöglich sogar ein ebenbürtiger Nachfolger von „Dancer In The Dark“ werden können.
Adam Drivers Solo auf der Comedybühne, in dem er sich und Ann gleichzeitig performt, ist schauspielerisch das Größte, was der Film zu bieten hat und was man ewig zu sehen bekommen wird. Anns angebissener Apfel ist ein schönes Detail (oder ein Product Placement?). Ebenso der aufblasbare Flamingo im Pool. Der Umstand, dass der Freund lediglich „Der Dirigent“ heißt. Einige Choreografien, die Gossip-News, einige wunderschön arrangierte Sets, die Show in der Bowl am Schluss, die Sparks als Piloten, das beeindruckt, und der Rest sind er- und bedrückende, dunkle, unsinnig in die Länge gezogene Dramapassagen mit Gesang. Nach dem Abspann zieht die Filmcrew mit Laternen durchs Bild, verabschiedet sich und bittet die Zuschauer, anderen von dem Film zu erzählen, wenn er ihnen gefallen hat, und man fragt: Was soll einem daran gefallen haben?! Mit dieser Frage befasst man sich dann noch eine ganze Weile.