Von Matthias Bosenick (07.10.2021)
Alles beginnt mit einem gestohlenen Fahrrad: Aus einer Verkettung von Zufällen geraten drei Nerds und ein Soldat mit Rockern aneinander. Was Anders Thomas Jensen aus dieser Gemengelage macht, sprengt alle Genregrenzen und ist, gottlob, weitab davon, so peinlich zu sein, wie es das Plakat suggeriert und wie es Jensens voriger Film „Men & Chicken“ war. Humor und Tragik, Drama und Action, Emotionen und Blutbad: Perfekt ausbalanciert, auf den Punkt, sympathisch absurd, filmisch hochwertig und enorm seriös liefert der Däne einen der überraschendsten Filme der letzten Jahre. Und eine Vielzahl an Onelinern, für die allein man den Film schon öfter gucken muss.
Jensen verkaspert keine seiner Figuren, auch wenn er ihnen allen das Potential mitgibt, reine Karikaturen zu sein. Das hindert ihn nicht daran, die kaspertauglichen Eigenarten dieser gesellschaftlich Ausgegrenzten auszuspielen, aber er bringt sie handlungsdienlich ein und generiert mit einem Aufeinanderprallen der Welten eine liebenswerte Situationskomik. Zudem legt er überraschende Handlungssprünge früh an und spielt sie zur Idealzeit aus, oftmals sogar, ohne sie – anders als in Hollywoodfilmen – lang und breit zu erklären: Hier darf der Zuschauer noch selbst denken und seine Freude daran finden, die ausgelegten Spuren richtig zu deuten. Das melodramatische Ende sei diesem Film gegönnt, konsequent war er bis dahin hinlänglich.
Die zwei Welten, die da aufeinanderprallen, bestehen aus einem Familiendrama um einen Afghanistansoldaten und dessen zurückgelassener Familie sowie dreier Nerds, die in Statistik, Hacken und Mathe Asse sind, aber dafür im Rest des Lebens eher untauglich. Einer der Nerds bietet in einem Zug der Frau des Soldaten einen Sitzplatz an, auf dem sie dann in der Folge eines Unfalls stirbt. Der Nerd („Ich hab überlebt!“) nun glaubt, Beweise dafür zu haben, dass das ein Attentat war, und zwar auf einen Mitreisenden, der nämlich gegen einen Rockerboss aussagen sollte. Die Spuren sind schlüssig, und damit überzeugen sie den Soldaten, der fortan auf Rache sinnt. Der Freund der Tochter, ein ukrainischer Sexsklave und ein arabischer Tourist spielen auch noch wichtige Rollen.
Klingt abgedreht, ist es auch, aber schlüssig, und das verwundert ungemein. Jensen rührt alles zu einem stimmigen Rezept zusammen, jede Eigenart findet eine Bedeutung für die Handlung, jede Tat bringt die Geschehnisse in eine neue Richtung. Und diese Gags! „Es ist ungefähr so illegal, wie einen Bootssteg ohne Genehmigung zu bauen“, „Du wolltest ihn in allen möglichen Vereinen anmelden, das ist auch Rache, da ist der Schritt zum Mord nicht mehr groß“, und manchmal ist nichts sagen sogar ein grandioser Gag. Not und Witz gehen hier Hand in Hand, Missbrauchsopfer, Traumapatienten, Nihilismus, Trauer, nackte Gewalt, und gleichzeitig bekommt man einen guten Gag serviert, und keine von beiden Gemütslagen leidet darunter, vielmehr nutzt Jensen viele Chancen für schlüssige Psychogramme und emotionalen Tiefgang. Unglaublich.
Außerdem beherrscht Jensen sein Handwerk. Der Film ist ästhetisch gekonnt fotografiert und farblich komponiert, die Musik ist fein darauf abgestimmt, Jensens Stamm-Schauspieler – nicht nur Mads Mikkelsen – gehen in ihren Rollen auf, die Dialoge sind Gold, die Action ist auf einem Niveau inszeniert, das man in einem so emotionalen Kontext gar nicht erwartet hätte. Man sieht hier deutlich, was Jensen mit „In China essen sie Hunde“ und „Blinkende Lichter“ vor über 20 Jahren bereits lernte, und etwas „Bleeder“ schimmert hier auch durch. Und doch überwiegt final die Erkenntnis: Bei Depressionen, Schuldgefühlen und Verlust hilft – Liebe. Fröhliche Weihnachten!