Von Matthias Bosenick (24.07.2021)
Großartige Schauspieler, interessante Inszenierung, lückenhaftes Drehbuch – ein typischer Vinterberg also: „Der Rausch“ berauscht nur so lang, wie man nicht darüber nachdenkt. Nicht ganz so schlimm wie bei „Die Jagd“ verbirgt Regisseur Thomas Vinterberg wesentliche Handlungselemente dergestalt vor dem Zuschauer, dass der deren Abwesenheit nicht sofort bemerkt. Zudem bezieht der Däne zu dem Thema, das er sich als Platzhalter für die Darstellung vierer Midlifekrisen ausgesucht hat, keine konkrete Stellung: Für Besonnene ist der Film vielleicht eine Warnung, für Leichtfertige aber eher eine Ermunterung. Mit seinen Plotholes und der expliziten Ermunterung, seine Minderwertigkeitskomplexe mit Alkohol auszugleichen, ist „Der Rausch“ leider keine uneingeschränkte Empfehlung wert.
Um ihrer langweilig gewordenen Lebensmitte etwas Pfiff zu geben, beginnen vier männliche Freunde, allesamt Lehrerkollegen eines Gymnasiums, ein heimliches Experiment auf Basis eines norwegischen Forschungsergebnisses: Sie halten ihren Blutalkohol auf 0,5 Promille und werten die Ergebnisse aus. Siehe da: Alle vier steigern ihre Leistung, werden attraktiver, begehrter, effektiver, kurz: Das Experiment geht im Wortsinne voll auf. Also steigern sie die Dosis bis hin zum Vollrausch – mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die jeweilige Biografie und einem nichtsdestotrotz rauschhaften Ende.
Von hier an liegt eine Spoilerwarnung vor. Denn da liegt schon das erste Manko: Auch wenn eine der vier Personen am Experiment zugrundegeht, ist das Fazit des Films, dass Alkohol ein probates Mittel zur Leistungssteigerung und zur Freizeitverbringung ist. So abstoßend wie die Drogen in „Fear And Loathing In Las Vegas“ ist die Volksdroge hier nicht dargestellt, alles geht letztendlich gut, bis auf den einen Fall, der aber diffus bleibt. Was also will der Alkohol hier sagen?
Im Grunde ist der Alkohol hier ein Platzhalter, analog zum weißen Hai in „Der weiße Hai“, der vielmehr für ein Problem steht, das drei Männer, die sich nicht leiden können, gemeinsam zu lösen haben. Hier peppen vier mittelalte Männer ihr ins Stocken geratenes Leben auf, und das Mittel dazu hätte irgendetwas sein können, Glücksspiel, Rock’nRoll, Extremsport, ist nun aber Alkoholismus. Dessen Darstellung muss man in „Der Rausch“ jedoch letztlich schon als verantwortungslos bezeichnen, wenn man Vinterberg nicht unterstellen mag, dass er sogar seine Freude daran hat, die Zuschauer zum Saufen zu animieren.
Denn eigentlich stecken die vier Männer in nichts mehr als der üblichen Midlife Crisis: Einer hat drei kleine Kinder und eine überforderte Ehefrau, zwei haben keine Familie und offenbar damit Probleme und die Hauptfigur entfremdet sich von der Ehefrau und den zwei Teenienachwüchsen. Klassische Konstellationen also. Nun verzichtet Vinterberg aber darauf, allen Figuren einen tieferen Hintergrund oder gar über die Viererkonstellation hinausragende Kontakte zu geben; nur wenige Schüler treten in Erscheinung, weitere Lehrerkollegen nicht und andere Freunde schon mal gar nicht. Die Ehefrau der Hauptfigur hat etwas mehr Tiefe als die hysterische zweite Partnerin, aber je mehr Anteil sie bekommt, desto unplausibler wird ihr Verhalten. Dazu später mehr.
Die vier Probanden strukturieren ihr Vorgehen in drei Teilen: 0,5 Promille, eigenes Limit und Vollrausch. Getrunken werden soll zunächst nur während der Arbeit, später weiten die vier alles aus, bis ins Uferlose und gottlob bis zur Dämmerung, dass da etwas aus dem Ruder läuft. Der Zuschauer bekommt jeden der drei Teile als singuläres Schlaglicht ohne zeitlichen Kontext dargeboten; irgendwann ist die Rede von Herbstferien, später fällt Schnee, die Dauer des Experiments bleibt unklar. Ebenso erfährt der Zuschauer nicht, welche Folgen das Experiment auf das Umfeld der vier Männer hat – jedenfalls nicht direkt: Vinterberg zeigt mit Vorliebe die heroischen Erfolgsmomente der Pseudo-Wissenschaftler, analog zu „Club der toten Dichter“ oder „Rocky“, und erst im späteren Verlauf lässt er Seitenfiguren Sätze sagen wie „Wir wissen schon länger, dass du trinkst“ oder „ich dachte, Sie hätten aufgehört“. Das wahre Drama des Alkoholismus‘ findet also in Abwesenheit statt, während man die vier Typen sich in ihre Hemmungslosigkeit steigern sieht.
Das vermittelt den Eindruck, das Saufen bliebe weitgehend ohne Widerhall. Eine Lehrerkonferenz, auf der einer besoffen erscheint und die zum Thema hat, dass Alkoholismus im Kollegium vermutet wird, bricht ohne Ergebnis ab. Dabei hätte man spätestens dann thematisieren können, dass es Verdachtsmomente bezogen auf Einzelne gibt oder sogar die Schulleitung das jeweilige Gespräch suchen lassen. Ebenso das mit den Familien: Die zwei verfügbaren Ehefrauen gehen an die Decke, als die jeweiligen Männer einmal sturzbesoffen vom Feiern kommen, mit dem Hinweis, den Alkoholismus nicht mehr zu ertragen, dabei war dieser Exzess für den Zuschauer der erste und das Thema für die Beziehung als Belastung vorher nie vorhanden. Und wenn eine Frau dann sagt, dass ohnehin das ganze Land saufe, stellt sie überdies den Sinn des Films in Frage. Am Ende sowieso, indem sie, trotz heimlichen Liebhabers, zum Gatten zurückkehrt, ihn also fürs Saufen noch belohnt. Damit bestätigt Vinterberg die halbironisch eingefügten Clips von trinkenden Politikern: Man kann Alkoholiker sein und erfolgreich, am Ende geht sowieso alles gut. Der eine Ausfall bestätigt nur die Quote, der Rest reißt rechtzeitig die Reißleine und badet trotzdem im Schampus. Saufen ist also so lang okay, wie man nicht blutend vor der Garagenauffahrt der Nachbarn herumliegt. Gewagt.
Noch eins zur Ehefrau: Sie sagt, sie habe sich schon vor dem Alkoholismus des Gatten aus dessen Leben ausgegrenzt gefühlt, dabei ist sie diejenige, die permanent Nachtschicht in einem unbestimmten Job macht und den Liebhaber hat, während er bis auf die Unterrichtsvorbereitungen keine Freizeitvergnügen und also nichts zum Ausgrenzen hat. Und noch eins zum Ausfall: Der Tod bleibt diffus, zumindest die Ursache, wenngleich man aus dem vorhergehenden Verhalten einen Suizid ableiten kann. Die Trauer um den Genossen hält sich indes in Grenzen, die Kumpels gehen einen auf ihn saufen. Und noch eins zum Experiment: Auch das hat keine Folgen, es bleibt ein Gimmick, mit dem Vinterberg die Party startet, aber er führt es nicht zum Abschluss, etwa als Erklärung im Umfeld oder als eingereichte wissenschaftliche Arbeit.
Aber der Film hat ja auch Gutes. Die vier Schauspieler agieren großartig, und Mads Mikkelsen hat eine nicht so opferhaft-passive Rolle wie noch in „Die Jagd“. Man kann sich gut vorstellen, mit den vier Typen Zeit zu verbringen, wenn sie zusammensitzen, Essen gehen, Mucke hören, tanzen und, nun, auch mal das Glas heben. Wie sie miteinander umgehen, fürsorglich, umsichtig, indes auch zum Mittrinken animierend, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Fass überläuft. Glücklicherweise vermeiden es die Darsteller, permanent Situationen zu kreieren, in denen man dazu angehalten ist, über Männer zu lachen, die Betrunkene spielen; für so etwas gibt es bereits hinreichend Hollywood-Filme.
Vinterberg dreht in alter Dogme95-Schule, also viel mit dokumentarischer Handkamera, durchsetzt mit grandiosen Kinoleinwandbildern und überraschenderweise eingeblendeten Texttafeln, auf denen Laptopeintragungen und Textnachrichten zu lesen sind, als wären es Stummfilmtafeln. Auch der Einsatz der Musik richtet sich locker an Dogma-Regeln, sie erklingt nur innerhalb der Handlung, wenn die Jungs eine Platte auflegen („Cissy Strut“ von The Meters, großartig) oder ein Stück Klassik am Laptop abspielen, oder wenn im Restaurant zu Beginn ein Chor wie in der griechischen Tragödie ein boshaftes Ende vorwegnimmt – das der Film jedoch nicht einhält.
Dieser Rausch, überdies, ist eher Reichen vorbehalten, allein der vielkonsumierte Wein schon ist in Dänemark arschteuer. Den Kinds bleibt nur der Søløb, also das bierbefeuerte Komasaufen aus dem Originaltitel. Und noch eins bleibt festzustellen: Thomas Vinterberg verhält sich zu Lars von Trier wie Robert Rodriguez zu Quentin Tarantino.