Von Matthias Bosenick (23.06.2021)
Entspannung kann ganz schön herausfordernd sein: Auf zwei CDs toben sich die Front-242-Mitbegründer Daniel Bressanutti und Dirk Bergen unter ihrem etablierten Alias Nothing But Noise (oder auch NothingButNoise, analog NoMeansNo) mit Berliner-Schule-basiertem Ambient-Elektro aus. Sie lassen ihren analogen Fuhrpark pluckern und kreieren repetetive Sounds dazu, die man bisweilen gar als Melodien verstehen kann. Auf diesen epischen Flächen geht es aber nicht um Songs, sondern um Atmosphären, selbstredend, und trotz aller Wiederholmomente auch innerhalb der Discographie kreiert das Duo ausreichend einnehmende Tracks, um auch die drölfte Veröffentlichung in wenigen Monaten noch geil finden zu können.
Bergen und Bressanutti wissen, was Ambienthörer erwarten, und sie wissen daher auch, wie sie diese Erwartungen erfüllen – und mit ihnen brechen können. Gleich Track 2 etwa bietet zunächst reine Synthieflächen, die den Hörer einlullen und in Sicherheit wiegen, bis dann Sounds hinzustoßen, die man in weit harscherer Variante von „Fuck Up Evil“ oder „Evil Off“ von Front 242 zu kennen glaubt. Aber nur die Sounds, von EBM ist bei NBN nichts weiter zu vernehmen, auch wenn die beiden Protagonisten dieses Genre mit erfanden (und Bergen 1993 ohnehin längst nicht mehr dabei war). Und auch wenn sich tatsächlich im Verlaufe des Stückes ein synthetischer Rhythmus hineinschleicht: Von tanzbarer Körperlichkeit ist diese Musik weit entfernt.
Ohne große Erklärungen werfen Bergen und Bressanutti nun also unter dem Titel „Aeon 1-9“ von eins bis neun durchnummerierte und verwirrenderweise als „Cycles“ bezeichnete Tracks auf den Markt, die es limitiert auch auf zwei separate CDs verteilt zu erwerben gibt. Jeder Track ist elf bis 16 Minuten lang, „Cycles 4“ sogar fast 22, und jeder Zirkel hat nicht nur einen eigenen Charakter, sondern häufig in sich noch Brüche, die die Unterteilung bei oberflächlichem Hören willkürlich erscheinen lässt. Sobald man sich auf den Trip in diese mehr als 130 Minuten Musik eingelassen hat, gerät man ohnehin in einen Fluss, dem Ufer egal sind, nicht aber die Stromschnellen, Böschungen, Hindernisse, Auen, Schikanen sowie die Vehikel, die auf ihm friedvoll dahingleiten oder in Turbulenzen geraten.
In wieweit man die meditativen Passagen tatsächlich für Meditation verwenden kann, müssen Yogagurus beantworten. Auf Traumreisen – unter Wasser, ins All, in weite Ebenen oder durch zerklüftete Landschaften – kann sich zu diesem Soundtrack auch ein Laie begeben, zum Chill-Out taugt die Musik allemal, und zusätzlich dazu, neue Räume zu erkunden. Bressanutti und Bergen belassen es nicht dabei, in klassischer Berliner-Schule-Art ihre Synthies konkrete spacige Formen wiederholen zu lassen, sondern ergänzen diese eben mit unerwarteten Elementen und Strukturen; da kann in „Cycles 3“ eine eingestreute Melodie beinahe barock erscheinen oder „Cycles 8“ sympathischerweise so klingen, als habe man einen nicht ganz zurechnungsfähigen Johann Sebastian Bach an einen Synthesizer gesetzt, ohne ihm vorher zu zeigen, wie das Ding überhaupt funktioniert. Das Duo weiß zudem, wie es seinen Gerätschaften auch kraftvolle Sounds entlocken kann, und wenn die sich dann über die Teppiche legen, verleihen sie ihnen sogar mehr Tiefe. Es lohnt sich wie immer bei NBN, die Musik nicht nur zum Einlullen, sondern auch zum bewussten Hören zu verwenden.
„Aeon 1-9“ ist nicht nur das rund neunte Album des Projektes Nothing But Noise, inklusive zweier Splits mit Bressanuttis Alias Prothèse und ohne die EPs, sondern auch noch ein paralleler Begleiter zum neuen Prothèse-Album „Scene e Rituali“. Der 66-jährige Bressanutti brachte damit allein in den zurückliegenden zwölf Monaten also mindestens sechs Alben und einen USB-Stück voll mit Musik unter die Leute: „Live Ambient 2020“, „Six+Six“ und „Delete Everything“ (der Stick) als Daniel.B., „66.6“ (mit Elko Blijweert), „44.44.44“ (als Prothèse) sowie eben „Aeon 1-9“ und „Scene e Rituali“, außerdem vier alte Live-Konzerte von Front 242. Wer weiß, was einem da noch alles entgangen ist; sicher dürfte sein, dass er schon wieder etwas Neues in petto hat, sobald man das jüngste überhaupt einmal durchgehört bekommt.
Nun belegt dieses gigantische Output natürlich auch, dass kein Mensch ausschließlich Neues entwickeln kann, und auch auf „Aeon 1-9“ wiederholt sich innerhalb der zwei Stunden einiges ebenso wie außerhalb, bezogen auf andere Platten von Bressanutti. Eine hohe Qualität hat seine Musik aber immer und geil ist der Trip durch die Äonen allemal.