Spezial: addicted/Noname Label aus Moskau, Teil 6

Von Matthias Bosenick (23.10.2020)

Drei Veröffentlichungen empfehlen die Freunde vom Moskauer Label addicted/No Name dieses Mal: „Бельмо“ alias „Nebula“ von Бром, Free Jazz mit dem Willen, den Jazz noch freier zu gestalten, das spacige Mini-Album „Гелиакические восходы Сириуса“ der Schauspielerin Inna Pivars und ihrer Band The Histriones, das auf den Spuren Syd Barrets und des französischen Chansons hippiesk ins All dreht, sowie die EP „Прелюдия“ des Trios Рудольф, das in der Besetzung Schlagzeug, Bass und Plattenspieler unerhörten Lärm macht.

Бром – Бельмо (2014)

„Nebula“, wie die Band „Бельмо“ selbst nennt, ist das dritte Studio-Album der Moskauer Band Бром, seit Mai liegt mit „Dance With An Idiot“ das mittlerweile siebte vor; nur ist „Nebula“ eben das einzige, das auf dem vielseitigen Label ohne Namen erschien. Aufgenommen bereits 2012, ringt es dem Jazz eine Seite ab, die die Band selbst mit dem Hashtag „No Jazz“ versieht, angelehnt an die New Yorker No Wave von Anfang der Achtziger, als dort Bands die bestehenden Songstrukturen aufbrachen und eine kleine Welle der Post-Punk-Avantgarderockmusik starteten. Nun ist der Jazz von sich aus bereits frei, ihn als No Jazz erneut umzukrempeln würde eigentlich bedeuten, aus ihm eine Art gefällige Schlagermusik zu machen, doch mitnichten: Brom bleiben klar in der Avantgarde verhaftet, im Freien, eben im Free Jazz, auf „Nebula“ mit Alto-Saxophon, einem nach Neunziger-Crossover oder gar Les Claypool klingendem Bass und Schlagzeug.

So ein Saxophon kann man natürlich zum gepflegten Getröte verwenden, und das macht Anton Ponomarev hier auch gern, gleich zum Einstieg lässt er keine falschen Erwartungen aufkommen. Doch wären da nicht noch Dmitry Lapshin und Oksana Grigorieva an Bass und Schlagzeug, das Album wäre wohl unhörbar geraten: Sie geben eine Struktur vor, die sich zwar an Takte hält, doch rhythmisch kaum weniger herausfordernd als das warme Saxophon in seinen freien Melodien. Gemeinsam gelingt es den dreien, aus dem vermeintlichen Chaos immer wieder Passagen der – nun: Schönheit erwachsen zu lassen, in keinem radiotauglichen Sinne mithin, aber dennoch unstressig, wie schon bei Miles Davis, dem Gottvater des Free Jazz, auch mal entspannend, sofern man zu solcher Musik den Zugang gefunden hat.

Auf dem jüngsten Album „Dance With An Idiot“ (Trost Records) nun klingt der Bass eher nach Doom und das Saxophon behält seinen kreativen Störfaktor bei. Die Besetzung hat sich – nach diversen Weg- und Zugängen zwischendurch – geändert: Am Schlagzeug sitzt jetzt Yaroslav Kurilo und mit Felix Mikesnky erweitert ein Gitarrist und Keyboarder die Band zum Quartett. Längst schreiben sich Бром außerdem Brom, die Tracktitel sind sämtlichst auf Englisch gehalten, der Blick ist mithin auf eine internationale Bühne gerichtet. Die Strukturen der Tracks sind noch komplexer und außerdem mit den Keyboards partiell psychedelisch sowie mit der Gitarre partiell heavy, bisweilen meint man, Mr. Bungle oder Frank Zappa herauszuhören, bei anderen Gelegenheiten The Thing. Mit „Salty Peanuts“ ist ein ausgesprochen wildes Cover enthalten, von Dizzy Gillespie nämlich. Und mit „Goodbye, White Rhino!“ zerlegt die Band auch noch den Reggae. Im Vergleich zu „Nebula“ ist eine gehörige Schippe Brutalität hinzugekommen.

Inna Pivars & The Histriones – Гелиакические восходы Сириуса (2017)

Eine musikalische Überraschung: Zurück ins All und in der Zeit geht es mit diesem Mini-Album, auf dem wir die Moskauerin Inna Pivars auch noch auf Deutsch singen hören. „Гелиакические восходы Сириуса“ ist ein Konzeptalbum, das sich um den Aufgang des Sirius eine Minute vor der Sonne am 23. Juli 2017 dreht; „The Heliacal Risings Of Sirius“ nennt die Band diese EP deshalb auch auf Englisch. Und den ersten Track, der sich fast zehn Minuten lang titelgemäß ins All schießt, in einem Psychedelic-Sound, der sich nah an dem der Sechziger oder Siebziger orientiert, namentlich die Pink Floyd unter Syd Barret, aber auch grundsätzlich und allgemein in jener Epoche verhaftet. Im bekifften Midtempo startet es beschwingt, bis der Track komplett zerfasert und jeder Musiker seiner eigenen Droge zu folgen scheint. Und Musiker gibt’s hier einige: Bandchefin Inna Pivars singt und besorgt die Noises, Kirill Bezrodnykh schließt sich damit an und fügt noch die Gitarre hinzu, Evgeny Vakhlyaev spielt einen dicken Retro-Bass, Keat Tikhones bedient Orgel, Keyboards und Glockenspiel und Vlad „Artist“ Sokolov das Schlagzeug.

Und dann fängt sich der Track plötzlich wieder und bratzt nochmal los, mit neuem Schwung. Großartig. Die beiden anderen Songs erinnern an Chansons, die den Absprung in die Avantgarde absolvierten. Rund um schöne Melodien und Wohlklang türmen sich bedrohliche Geräusche auf, mit denen die Songs dann gemeinsame Sache machen und sich in den Wahnsinn verirren. „Barock“ ist das Schlagwort, das Pivars selbst am häufigsten für die Beschreibung ihrer Musik verwendet. Es wundert alles nicht: Sie ist Film- und Theaterschauspielerin und war in diversen russischen Musicals umjubelt.

„Гелиакические восходы Сириуса“ ist die vierte Veröffentlichung dieser Band, inzwischen ist mit der Single „Восточная/Аленушка“ die sechste erschienen, noch ohne Label, und eigentlich der Vorbote zum Album „Певчие птицы в лесу берендеев“, das aber offenbar noch immer nicht veröffentlicht wurde, im Zuge der weltweiten Viruskrise. Auch bei dieser Band gab es Umbesetzungen, aber keine umwälzende Neuausrichtung: Der Bass trägt das Frankreich der Siebziger weiter in sich, die Musik stößt ins All vor, die Sounds und Melodien sind so bunt wie der Hippie-Bandbus, die zwei Songs sind so versponnen, dass man daran seine wahre Freude hat. Ein herrlicher durchgedrehter Spaß! Man kann nur hoffen, dass der Rest auch noch den Weg in die Öffentlichkeit findet.

Рудольф – Прелюдия (2020)

So richtig durchgeknallt ist dann aber doch erst „Прелюдия“, das Mini-Album, das Рудольф aus Moskau ihrem nächsten Vollzeit-Album vorausschicken. Rudolf, wie die Band international geschrieben wird, ist ein Trio, das seine Musik als „Powerviolence-Sludge-Hiphop“ bezeichnet, und treffender geht es auch nicht: Da steckt Punkrock drin, der aus den Fugen gerät, unter anderem den Weg in Richtung Jazz einschlägt, durchsetzt von Vinyl-Scratches, Geschrei und luftigem Lärm. Und dann ist die Band auch noch kurios besetzt: Schlagzeug, Bass und Plattenspieler, keine Gitarren; die Künstler dahinter nennen sich Vanish Fuck Off, Роман Карандаев und Дима Кузовлев. Das Kunststück an diesem Krach ist, dass die drei Musiker darin Elemente unterbringen, die man dann doch zu erkennen versucht; sind das etwa Orchester-Samples, Blasinstrumente, digitale Piepser?

Wie auch immer, so zerschossen die Musik auf diesen fünf Tracks auch sein mag, Amateure sind die drei Moskauer nicht. So ein Inferno kann man nur auslösen, wenn man weiß, was man tut. Sie meinen das offenkundig ernst, was sie da treiben, und haben dabei trotzdem und gerade deshalb unüberhörbar Spaß. Man muss zunächst in Deckung gehen, wenn man die EP auflegt, und aus der sicheren Entfernung damit beginnen, sich an das zu gewöhnen, was dann ertönt. Nicht für alle Tage geeignet, aber an allen anderen wertvoll. Live muss das zünden wie Bombe!

Bandcamp