Von Matthias Bosenick (15.04.2019)
Mit seinem neuesten Buch kehrt Serge Roon zumindest formal zurück zu seiner einstigen Profession: Der frühere Intendant des Celler Schlosstheaters verfasst „Augentrost“ als Theaterstück. Darin lässt er ein Mädchen und dessen Großeltern während eines unbestimmten Krieges die Normalität suchen und mühsam dagegen ansteuern, den dünnen Firnis der Zivilisation zu verlieren. Mit reduzierten Worten erzeugt Roon Beklemmung und Finsternis, legt aber auch zynischen Humor in seine seelischen Grausamkeiten. Mit Text bedruckt sind überdies lediglich die ungeraden Seiten: Die geraden gestaltete Grafiker Ferdinand Georg. So viel Spoilern darf sein: Um einen „Stummfilm“ handelt es sich hierbei nicht.
Unbeschwert beginnt das Buch, mit einem Bild von der Normalität, von der man da noch nicht weiß, dass diese zum Zeitpunkt der Geschichte selbst nurmehr Geschichte ist. Schnell zerreißt nicht nur der auf ein Laken projizierte Film, sondern auch das Bild, das der Text zeichnet: Das Mädchen und seine Großeltern leben in einem offenbar abgelegenen Haus und versuchen, den Alltag zu meistern, während drumherum ein Krieg tobt. Mehr und mehr dringen Ausläufer dieses Krieges in die zerbrechliche, angespannte Dreierkonstellation ein; zunächst gibt es Soldatenstiefel als Suppengrundlage, später auch Sex und Mord, und das Haus der drei verliert seine Mauern. Über allem schweben gleichzeitig Sehnsucht nach der Rückkehr in die Normalität, von Seiten des Mädchens, sowie Hoffnungslosigkeit und Resignation, von Seiten der Großmutter.
Die Handlung an sich ist spartanisch, ebenso die Sprache, und dort sitzt das Besondere dieses Buches, und zwar auf mehreren Ebenen. Roon erzählt die Grausamkeiten beinahe beiläufig, was sie im Kontrast zum ersehnten Normalen umso wuchtiger erscheinen lässt, da er sie als das tatsächlich Normale darstellt, an das man sich nicht nur zu gewöhnen hat, sondern längst gewöhnt hat. In seiner minimalistischen Sprache kommt Roon mit wenigen Worten aus und lässt den Leser die dunklen, blutigen Bilder in seiner Vorstellung selbst zeichnen. Und Roon befleißigt sich eines Sprachgebrauchs, den man, insbesondere in Kombination mit dem Thema Krieg, als veraltet und als zur Hitlerzeit stattfindend auffasst. Doch führt er den Leser damit in die Irre: Im Verlaufe der Handlung lässt er die Großmutter dem Mädchen immer wieder von früher erzählen, und dabei fallen alsbald Worte, die es weit vor den Vierzigerjahren noch gar nicht gab, etwa „Legoland“.
Mit diesem Kniff transportiert Roon die Geschichte ins Zeitlose: Eine Gesellschaft versucht, inmitten blutiger Zeiten zurechtzukommen, und muss sich der äußeren Einflüsse erwehren. Um das Ganze psychisch ertragen zu können, muss sich jeder selbst belügen, sofern er nicht resigniert und herzlos werden will. Die Großmutter entspricht diesem aufgeklärten Menschen, der sich keine Illusionen mehr macht, und das Mädchen träumt selbst im größten Elend noch von schneeweißer Hochzeit und einem Versprechen auf das Bessere, das Glück gar. Letztlich muss diese Gesellschaft zum Überleben sogar Handlungsweisen dessen annehmen, gegen das sie sich zur Wehr setzen will, also die eigene Moral negieren.
Doch Roon will nicht einfach alles schwarz malen, er lässt das Absurde, Rätselhafte, Witzige zu, und zumindest das letztere malt er dann doch wieder tiefschwarz. Äußerungen wie „Advent, Advent, die Katze brennt“ machen beim Lesen stutzig und durchbrechen den Fluss des Ausweglosen. Und ausweglos ist das, was Roon skizziert: An einer Stelle lässt er die Großmutter feststellen, dass der fremde Soldat vor dem Haus auf den nächsten Krieg wartet, und im Grunde kann man das Buch nach der Lektüre sofort wieder von vorn beginnen, das hört nie auf, nie hört das auf, wie Günter Grass schon bemerkte.
Das Schwarze greift Grafiker Georg auf: Er gestaltete die Blätter auf den linken Seiten, die geraden Zahlen mithin. In einer früheren Version des Buches waren die Grafiken noch als extrem vergrößerte Seitenzahlen zu erkennen, in der neuen Version macht Georg nicht mehr eindeutig sichtbar, um welche Art Zeichen es sich überhaupt handelt. Damit entsprechen seine Illustrationen dem Inhalt, in Schwärze und Doppeldeutigkeit. So schwarz der Stummfilm „Augentrost“ auch sein mag: Er reißt den Leser mit sich.