Von Matthias Bosenick (21.03.2019)
Ein Film ohne Worte und trotzdem ohne Langeweile: Veit Helmer zaubert wieder. Den an Feelgood-RomComs gemahnenden Titel muss man ignorieren, denn um eine Schmonzette handelt es sich hier nicht. Vielmehr bricht der Hannoveraner einmal mehr mit Film-Sehgewohnheiten: Er lässt seine Figuren schweigend, aber Dank der Bilder dennoch mit Inhalt interagieren, und schickt seine Hauptfigur, einen in die Jahre gekommenen Diesellokführer, in Aschenputtel-Manier auf die Suche nach der Trägerin eines BHs, der sich bei der Durchfahrt durch eine engbebaute Siedlung an seiner Eisenbahn verfing. Helmer gelingt eine detailverliebte, visuell einnehmende Geschichte, die ihre Schwächen ausgerechnet beim Kern hat: zu viel Brust, zu wenig Handlung. Ansonsten: ein Fest.
Die Wortlosigkeit ist von Anfang an beinahe zwangsläufig, erst später muss sich Helmer Kniffe ausdenken, um Situationen zu umschiffen, in denen eigentlich hätte gesprochen werden müssen. Man begleitet den mit Vorliebe solitären Lokführer bei seinen Fahrten durch wilde Steppen, karge Gebirge und eben eine heruntergekommene enge Vorortsiedlung. Ein kleiner Junge wacht in einer Hundehütte über das Eisenbahnsignal und warnt alle Bewohner, dass die Lok mit unzähligen Güterwaggons wieder angerauscht kommt. Schnell raffen die Leute alles zusammen, Wäscheleinen, Schachbretter, spielende Kinder, die Lok passiert die ärmliche Siedlung und das Leben geht weiter. Diese Routine widerholt sich für den Zugvogel Tag um Tag, aufgelockert von den Scherzen einer Bahnangestellten am Schaltpult. Einmal hat der Lokführer einen Lehrling an Bord, der privat aus gigantischen Maschinen Einstürzende-Neubauten-Musik generiert und dazu Trompete spielt. Die Hauptfigur selbst hat keine Hobbys, und als der Ruhestand ansteht, klappt es nicht mal mit dem Angeln.
Doch in dem Mann lauert der Romantiker, und als er am Tag vor dem Ruhestand wie immer zum Feierabend die versehentlich mitgenommenen Gegenstände von der Lok klaubt, ist darunter der BH einer Frau, von der er glaubt, sie einmal im Vorbeifahren durch ihr Fenster genau diesen BH öffnen gesehen zu haben. Also nistet er sich in dem Örtchen ein und befragt, bald schon mit Hilfe des Warnjungen, die Frauen, ob das intime Kleidungsstück ihnen gehört.
An der Stelle gehen die Hormone mit dem Regisseur durch. Ist die Passage anfangs noch angenehm unexplizit, ersinnt er sich mehr und mehr Situationen, in denen die Frauen blank zu ziehen haben. Stellenweise absurd: Etwa die Brustuntersuchung, für die das altersunterschiedliche Gespann die Ärzte medikamentös ausknockt, die Software manipuliert und sich verkleidet die Brüste aller Frauen im Ort zeigen lässt, oder die Trauersequenz, als der Lokführer eine sich anwanzende Witwe rücksichtslos zu Boden wirft. Diese Passagen bergen zwar Potential für sozialkritische Reflexionen, bringen die Geschichte aber nicht voran. Erst, als sich der Zorn der Ehemänner an dem Brustgucker entlädt, kriegt der Film die Kurve und löst die Suche unerwartet und positiv auf.
Die Dialoglosigkeit hingegen ist kein Manko des Films, auch wenn sich manche Sequenzen nicht sofort entschlüsseln lassen. Der missglückte Hochzeitsantrag etwa, mit den Gewichten, die der Lokführer nicht stemmen kann, oder die Verabschiedung in den Ruhestand. Da helfen die eigenen Erfahrungen als Mensch mitten im Leben, um der Geschichte folgen zu können. Anders ist es mit dem Umgang der Leute untereinander: Ihre Sprachlosigkeit lässt sie in manchen Situationen stumpf und abweisend wirken, es entstehen kaum Verbindungen zwischen den Menschen. Doch als Kaurismäki-Gucker kann man auch mit solchen Charakteren umgehen.
Helmer drehte diesen Film irgendwo im Kaukasus, zwischen Aserbaidschan und Georgien, mit einem munteren Sprach- und Schriftmix auf den Kulissen, und offenbar mit Laien. Den Industrial-Komponisten indes spielt Denis Lavant, dem exotische Filme nicht fremd sind: Er übernahm auch die Hauptrolle in „Holy Motors“. Der Film liefert Farben, Landschaften und Perspektiven, die fürs Kino gemacht sind, und ist unterlegt mit reduzierter und punktiert eingesetzter Musik. Im Verlauf des Guckens offenbart sich überdies, welche Zuschauer mit dem Nichtsprechen nicht klarkommen und beginnen, selbst lauthals zu quatschen. „Der Lokführer“ ist also kein Film für den Mainstream, das sollte man wissen, wenn man dafür ins Kino geht. Wer sich darauf einlassen kann, wird aber – mit den genannten Abstrichen – belohnt.