Von Matthias Bosenick (12.12.2018)
Wenn Lars von Trier einen Serienmörderfilm dreht, kommt dabei bei Weitem kein Genrefilm heraus – so gut sollte man den Mann inzwischen kennen. „The House That Jack Built“ greift die Struktur des Vorgängers „Nymp()maniac“ auf: Was dort der Porno war, ist hier eben der Serienkiller, an dessen Geschichte entlang von Trier Themen aus dem Fachbereichen Soziologie, Psychologie, Architektur, Religion, Kunst, Philosophie, Önologie und Jagd abhandelt. Das blutrünstige Monster bietet hier die Vorlagen für das Bildungskino – und natürlich trotzdem einen guten Grund für den Dänen, zu provozieren. Auch das ist typisch für von Trier. Zweieinhalb Stunden Film ohne Langeweile, mit Inhalt und trotz aller Begeisterung ohne den Wunsch, sich ihnen zwingend noch einmal auszusetzen.
Von Trier packt so viele Ebenen in diesen Film, dass man mit einem vollgestopften Kopf das Kino verlässt. Nicht zuletzt die Metaebene hinterlässt ihre Spuren im Gemüt des Betrachters, in der von Trier sich und seine eigene Kunst mit dem Werk seiner Titelfigur, also dem Serienmörder, gleichsetzt, und noch mehr, sogar Parallelen findet zu den Massenmorden im Dritten Reich. Diese Sequenz, in der von Trier in kurzer Folge Ausschnitte aus seinen älteren Filmen hintereinanderschneidet und seine Figur Jack darüber sinnieren lässt, dass den Künstler und den Massenmörder ähnliche Antriebe steuern, kommt so überraschend, dass sie viel zu schnell vorbei ist, als dass man sie ausgiebig reflektieren kann, denn schon schreitet Jack mit seinem Gesprächspartner Verge weiter und man fürchtet, den Anschluss zu verlieren.
Das ist nämlich durchaus möglich. Jack und diesen Verge hört man zunächst im Dunklen gehen und sich unterhalten; der Film visualisiert dann die Gesprächsinhalte. Darin erläutert Jack anhand von fünf Ereignissen seinen Werdegang als Massenmörder, und Verge knüpft immer wieder mit Exkursen an. Diese Momente durchbrechen klar das reine Genre: Wenn Verge in Jacks blutigen Schilderungen Querverweise zu allen möglichen Fachgebieten findet, um die psychologischen Mechanismen in Jacks Schilderungen analytisch zu entlarven, unterlegt von Trier diese Sequenzen wie in einer Dokumentation mit Beispielbildern. Auch Jack selbst hat den Hang zum Philosophieren, so wechseln sich die beiden mit ihren Vertiefungen ab. Überraschenderweise durchbricht von Trier damit in keiner Weise den Erzählfluss, im Gegenteil: Man hört dem Gespann gern zu und fühlt sich bereichert und seine Neugier geweckt. Nicht zuletzt darauf, was das alles mit dem Fortgang der Geschichte zu tun haben könnte. Damit nimmt Verge quasi die Rolle des Seligman aus „Nymph()maniac“ ein und Jack die der Joe; die Struktur ist vertraut, das Sujet – dort Porno, hier Killer – vergleichbar abschreckend fürs Kunstkino.
Und mit Kunst hat man es definitiv zu tun. Von Trier schnürt eine Wundertüte des Zitatepop, die für sich schon ein Fest für Menschen mit einigem Horizont ist. Darin verbirgt sich auch einiger Humor, der jedoch angesichts des Geschehens bisweilen so seine Schwierigkeiten hat, den Hals auch immer zu verlassen. Natürlich findet man überall Anspielungen an reale und fiktive Serienmörder, einige Beweggründe und Handlunsgweisen Jacks sind einem also vertraut. Bis in alle Ekligkeit: Die zur Geldbörse umfunktionierte abgeschnittene Brust etwa erinnert unangenehm an Ed Gein. Umso mehr Freude hat man an den unblutigen Verweisen: „2001: A Space Odyssee“ kommt einem in den Sinn, etwa wenn Jack und Verge in transparenten Kugeln beinahe schwerelos in den Abgrund sinken, oder „This Must Be The Place“ von Paolo Sorrentino, wenn Jack das rote Telefonkabel einmal quer über die Leinwand zieht. Selbst das Video zu Bob Dylans „Subterranean Homesick Blues“ findet seinen Platz, sobald Verge Jacks Verhalten mit Fachbegriffen aus der Psychologie nachzuvollziehen versucht. Dantes Inferno am konsequenten Schluss ist da ein beinahe zwangsläufiger Link.
Nun also versucht von Trier, sich selbst anhand des Jack sowohl zu verstehen als auch zu erläutern. Wie er es ja eigentlich mit fast allen seinen Filmen unternimmt. Sein Jack ist ein gescheiterter Architekt, der parallel zu seinen Bluttaten versucht, in einer leeren Landschaft ein Haus zu errichten. Während er nun also scheitert, tötet er Menschen und arrangiert die Leichen zu kunstvollen Fotos, die er an die Zeitung schickt. Je länger sein Blutrausch anhält, umso dringlicher verspürt Jack das Verlangen, entdeckt zu werden. Er wird absichtlich leichtsinnig und den Ignoranten gegenüber böswillig und zynisch („niemand kommt dir zu Hilfe“). Von Trier gibt hier also quasi den Jack, indem er Sequenzen einbaut, die nur schwer zu ertragen sind: Etwa die Jagdszene, in der Jack im Rahmen einer Picknickidylle Frau und Kinder anhand der Jagdtheorie in Bezug auf Rehe meuchelt – als würde von Trier damit das Publikum darum anbetteln wollen, ihn endlich aufzuhalten. Mindestens wegen seiner vermeintlichen Misogynie, die man ihm sicherlich vorwirft und die er doch immer wieder entkräftet. So sieht er wohl auch Jacks Schicksal als sein eigenes, analog zu Dante. Oder geht es ihm doch nur um den Ruhm, wie er David Bowie immer wieder singen lässt? Dessen „Fame“ ist übrigens das einzige Stück Popmusik im Film, abgesehen vom Abschlusslacher „Hit The Road Jack“ – and don’t you come back no more.
Von Trier lässt in seiner Erzählung absichtlich Lücken zu. Etwa die, woher er plötzlich Frau und Kinder hat, oder warum er in seinem vollgeleichten Kühlraum unbehelligt bleiben kann. Auch gibt es keine konkrete zeitliche Verortung; der Ausbruch des Mount St. Helen ist der einzige Anhaltspunkt, die Kleidung und Technik wirken zeitlos rückschrittlich. Auf filmischer Ebene setzt von Trier einen gewagten Mix an Material ein, von unterschiedlicher Qualität und sogar in verschiedenen Formaten. Selbst die Dogme95-Kameraführung kommt hier in Dialogen zum Einsatz und passt dort bestens hin. Erzählerisch wiederum übernimmt von Trier nur bedingt den Suspense des Genres, da er ja die Killersequenzen immer wieder intellektuell durchbricht – und es vollbringt, trotzdem keine Sekunde zu langweilen. Abgesehen davon inszeniert von Trier den Blutrausch zwar inhaltlich abstoßend, hält sich aber trotz mancher Explizität visuell zurück; oder man ist bereits abgehärtet und nimmt das Monströse nicht mehr wahr. Und nicht zuletzt verpflichtete von Trier eine Schar von Darstellern, für die man sich nur verneigen kann: darunter Bruno Ganz, Uma Thurman, Matt Dillon und Sofie Gråbøl.
„The House That Jack Built“ wirkt wie der komprimierte von Trier, als hätte er sein bisheriges Werk darauf hinführen lassen und dann ein Konzentrat daraus erstellt. Man verlässt das Kino aufgewühlt und mit vollem Kopf. Ein Höllenritt, wahrhaftig, und doch ist man nicht wirklich gewillt, diesen ein zweites Mal zu unternehmen. Was kann jetzt noch kommen? Der Film, den Lars dreht?