Von Matthias Bosenick (14.08.2018)
In jeder Hinsicht relevant ist dieses Album: Das Projekt Fischessen widmet sich dem Leben und Wirken von Guido Lucas, einem der einflussreichsten Menschen der deutschen Indierock- und Noise-Szene, der im vergangenen Jahr verstarb. Lucas war nicht nur Labelbetreiber von BluNoise aus Troisdorf, sondern selbst Musiker, und viele seiner ehemaligen Band- und Labelmates versammeln sich, um auf „Der tote Winkel“ in seinem Namen die Brücke zwischen Noiserock und Free Jazz zu zementieren. Eine Vorliebe für Lärm erleichtert den Zugang zu diesem großartigen Album.
Zentrales Instrument ist das Schlagzeug: Jörg A. Schneider wirbelt auf seinem Drumkit herum, als habe nie jemand so etwas wie Takt oder Rhythmus erfunden. Struktur erfahren die Tracks über die anderen Instrumente, klassisch Bass und Gitarre, zusätzlich Moog, Piano, Mellotron, Harmonium und diverse Field Recordings. Sie füllen die Lücken zwischen den Trommelsounds nie komplett aus, die Musiker weben also keinen dichten Musikteppich, sondern gestalten eigenständige Muster, teils rhythmisch, teils den avantgardistischen Noise verstärkend. Zwischendurch kommen sogar Stimmen zum Einsatz, das ist eher ungewöhnlich für Fischessen.
Das Album verfolgt eine musikalische Narration: Mit dem programmatisch betitelten „Blu Noise My Love“ legen Fischessen angemessen schnell und vertrackt die Spur vom Noiserock zum Free Jazz, der hier deutlich mehr Gewicht hat. Da die Erklärungen ausbleiben, muss man sich selbst seine Schlüsse aus den Songtiteln ziehen: War Lucas für einige „Mein liebster Feind?“ Starb er etwa den Rock’n’Roll-Tod durch zu viel „Booze And Glory“? Trotzdem will das Projekt „Einmal noch so wie damals“ spielen, und wenn man genau hinhört, erkennt man die freien Strukturen tatsächlich auch schon im Oeuvre von Les Hommes Qui Wear Espandrillos, der Band, aus der Lucas ausstieg und aus der sich Fischessen mit Schneider und Lucas‘ Nachfolgerin Yvonne Nussbaum später entwickelte. Im Verlauf wird das Album ruhiger, das Schlagzeug reduzierter, die Stimmung entspannter, der Atem frei. „Guido ist Tod“, behauptet der vorletzte Track, bis sich das Album im finalen, 23 Minuten langen „Bergerbos“ beinahe auflöst, aber anders als das vergleichbar strukturierte „The Downward Spiral“ von Nine Inch Nails mit einem erlösenderen Grundgefühl.
„Der tote Winkel“ ist das erste Fischessen-Album seit „Köder“ vor zehn Jahren, dem voraus ging 2006 nur „Suicide Is Much Too Blonde“. Initiatoren des Projektes waren Schneider (Schlagzeug), Nussbaum (Moog) und Scharco (Bass, Gitarre), als Gäste sind hier noch dabei: David Russel (Stimme), Soheyl Nassary (Gitarre, Stimme), Carsten Sandkämper (Piano, Mellotron, Harmonium, Stimme) und Oliver Klemm (Field Recordings). Mit Scharco unterhält Schneider noch das Noiserockjazzduo Nicoffeine, Nussbaum musizierte wie Schneider auch bei Lucas‘ Soloprojekt Lude, in der International Friendship Society trafen sie alle ebenfalls aufeinander, Nassary war bereits am Nicoffeine-Vorläufer Midian beteiligt, Sandkämper und Klemm veröffentlichten mit Sankt Otten und Pendikel auf BluNoise, und Schneiders weitere Projekte lassen sich vermutlich nicht einmal von ihm selbst noch lückenlos aufzählen: Roji, Tarngo, Gaffa, Katla, Sun (kurzzeitig zur Reunion), Bone Machine, Fletch Cooper (unbestätigt), Skim (Nussbaums Solo-Projekt), Jealousy Mountain Duo, IFS sowie diverse weiteren Kollaborationen rund um den Globus.
Und Guido Lucas? Er übernahm das Label BluNoise in den Neunzigern und führte es zu der Bedeutung, die es bis heute hat. In seinem BluBox-Tonstudio nahm er allerlei Bands auf. Und er musizierte selbst, als Lude sowie mit Scumbucket, dem Blackmail-Seitenarm Ken, den Postpunks Genepool und dem Punkpopprojekt Bungalow 7. Obwohl „Der tote Winkel“ auf BluNoise erschien, ist der Fortbestand des Labels so unklar wie Lucas‘ Todesursache.