Von Matthias Bosenick (04.10.2012)
Ein Riesenspaß: Weil Ole Schulz-Weber einen Stapel alter Fotos aus seiner Braunschweiger Subkultur-Jugendzeit auf dem Dachboden fand, einscannte und auf Facebook teilte, schlossen sich unerwarteterweise Dutzende weiterer Indie-Nostalgiker an und kramten in ihren Archiven und bisweilen vernebelten Gehirnen nach Devotionalien der 80er, wie sie nicht in jedem Geschichtsbuch stehen oder Revivalshow zu sehen sind. Andreas Reiffer nun lässt die Herausgeber neue Geschichten und viele der Fotos in diesem Buch bündeln. Für die Dabeigewesenen ist dieses Alternativ-Manifest wie ein altes Poesiealbum, für die Zuspätgeborenen oder -dazugezogenen ein famoses Nachschlagewerk. Zwei Begriffe fallen in den zuallermeist vortrefflichen Texten ganz besonders häufig: La Pétite Mort (Name einer Band, von der bis vor kurzem niemand mehr sprach) und FBZ (Name des Veranstaltungsortes, den die Stadt 2002 schloss und nach dessen Neu- oder Wiedereröffnung die Rufe immer lauter werden).
Die Fotos von irgendwelchen Leuten sind natürlich sehr persönlich; wer nicht dabei war, hat vermutlich auch wenig Freude an ihnen. Sie sind vorhanden, das ist gut. Relevanter sind die Texte, und für die suchten die Herausgeber eine großartige Mannschaft an Autoren und Erzählern zusammen. Naturgemäß überschneiden sich viel Inhalte, aber insgesamt ist die thematische Bandbreite enorm, was den Lesespaß nur steigert. Unter den Schreibern sind Nutznießer jener Tage ebenso wie Mitgestalter, man bekommt also Infos aus erster und zweiter Hand. Man düst im Volksporsche über die Autobahn, steht im Leukoplast an den Plattenspielern, kauft sich bei La Bota Cowboystiefel und bei Ran7 Lederjacken und Schallplatten sowieso, kickt mit der Eintracht, macht Synthiepop, Blues, Soul, Metal, New Wave, Rock, Punk und sonstwas für Musik, lungert nächstelang im FBZ oder tagelang vor Stresa herum, verabscheut das Atlantis und spürt den untergrundigen Zeitgeist, der dem bundesweiten zwar hinterherhinkte, aber dennoch einen festen Charakter hatte. Die Autoren – darunter neben den Herausgebern auch Gerald Fricke und Frank Schäfer – bleiben sich sprachlich treu; wer kein Autor ist, erzählt seine Beiträge versierten Journalisten. Insbesondere FBZ-Booker Peter Vaihinger könnte man jahrhundertelang zuhören. Kurios indes ist der Beitrag über das Stadtmagazin Subway, das sein Alter Ego aus der Gründungszeit heute mit dem Arsch nicht angucken würde und umgekehrt damals gegen seine heutige Inkarnation mächtig angewettert hätte.
Der Überblick ist groß und ausführlich, man bekommt nach der Lektüre ein Netz von Zusammenhängen in den Kopf, das Lesevergnügen ist riesig, der Neid der spät Dazugestoßenen gottlob nicht so sehr: Das FBZ und Ran7 gab es auch in den 90ern noch, das Kravchuk hatte auch etwas Eigenes, und heute ist Braunschweig sowieso wieder enorm lebenswert. Ein neues FBZ indes, das fehlt uns noch. Ein zweiter Teil der „Bohlweg-Zeiten“ über die MTV-dominierten 90er in Braunschweig lässt sich sicherlich auch bald angehen. Oder? Fotos auf dem Dachboden, jemand?