Von Matthias Bosenick (29.01.2018)
Faulheit ist das Letzte, das man Daniel Bressanutti unterstellen kann. Noch kurz vor Jahreswechsel legte er unter seinem Projektnamen Prothèse zwei Veröffentlichungen vor (und mit Nothing But Noise auch noch zwei bis fünf); die Unterschiede machen sich in den Kollaborationen zwar deutlich bemerkbar, Bressanuttis Handschrift indes dringt überall durch. Ist das Solo-Album „CHZwaar+zMe+aal“ noch typisch von Bressanuttis rhythmischer Eiseskälte geprägt, dringt aus „99.9“ die Wärme von Edwin Vanvinckenroyes Geige. Das ist damit auch das spannendere der beiden neuen Prothèse-Werke.
Als Bressanutti 1981 Front 242 mitgründete, legte er den Namen Prothèse vorläufig ab. Erst 2016 reaktivierte er ihn, vorgeblich, um das 35-jährige Bestehen des EBM-Erfinder-Projektes Front 242 zu feiern. Auf „CHZwaar+zMe+aal“ lebt er das aus, was er auch in den anderen Projekten zutage förderte (und womit er 2003 auch „Pulse“ garnierte, das bis dato letzte Album von Front 242): beatlose Rhythmusexperimente aus Synthieeffekten, die eine dergestalt schneidende Kälte verströmen, dass die Musik klingt, als könne das schiere Hören Schnittwunden zufügen. Allein auf Rhythmen beschränkt er sich dabei nicht, sondern lässt auch Raum für Flächen und für Leere.
Das ist spannend, weil experimentell, aber auf Dauer auch etwas ermüdend, weil in Bressanuttis Oeuvre nicht sonderlich neu und auf Strecke nicht so sehr die Aufmerksamkeit bindend. Das war schon einmal aufregend, etwa 2002 mit dem Projekt Speed Tribe oder zwischen 2001 und 2004 mit Male Or Female. Auch mit Prothèse schuf er schon Vergleichbares, nicht zuletzt mit der dicken Box „Überlastung“ vor nur wenigen Monaten. Mit Nothing But Noise klingt er etwas anders, aber da hat ja auch noch Front-242-Gründerkollege Dirk Bergen seine Finger im Spiel, und mit ihm geraten die Synthieflächen zwar ebenfalls trancig, aber wärmer.
Nie so warm wie mit Vanvinckenroyes Geige indes. Vanvinckenroye kommt aus der Folk-Richtung, mit The Tribe Band und Toissoeur, die Bressanutti zeitweise schon produzierte. Auf „99.9“ gelingt den beiden zusammen eine Fusion, deren Ergebnis eine beinahe metallische Wucht hat, im Sinne des Metal, also des US-amerikanischen Industrial, also wie die mittelalten Nine Inch Nails etwa, eingängig, latent aggressiv, bedrohlich, dunkel. Einige der Stücke unterlegt Vanvinckenroye zusätzlich zu seinen akustischen Instrumenten mit seiner Stimme; diese Tracks gibt es als Bonus noch einmal instrumental. Wenn die beiden dann zwischendurch doch auf Ambientflächen zurückgreifen, nehmen Vanvinckenroyes Instrumente Bressanuttis Kälte aus dem Sound heraus. „99.9“ ist das herausragendste Werk aus dem Bressanutti-Oeuvre seit Male Or Female und dem Debüt von Nothing but Noise.
Wer sammeln will, muss tapfer sein. „99.9“ gibt es zwar als limitierte CD, aber über Bandcamp bekommt man als Download einen Bonus-Remix. Schlimmer ist es bei „CHZwaar+zMe+aal“, das es als limitierte CD und LP gibt sowie als noch limitiertere Doppel-CD, deren Bonus dem Hauptwerk indes nichts Wesentliches hinzufügt, aber dennoch den Entspannungsbogen verlängert. Die Download- und USB-Versionen des Tapes hat zwei Extra-Remixe, die nicht auf dem Tape zu hören sind, geschweige denn auf der Bonus-CD. Drumherum schiebt Bressanutti mit Nothing But Noise eine Veröffentlichung nach der anderen durch die Gegend, als CD, Download, USB-Stick, Kassette oder 10“. Das lässt sich höchstens mit etwas Ambientmusik gerade noch so verkraften.