Von Matthias Bosenick (15.05.2017)
Mit sechs Jahren Verspätung ist der trotzdem noch jüngste Roman (eigentlich sind es sogar zwei Bücher in einem) von Alessandro Baricco endlich auch auf Deutsch erhältlich. „Mr. Gwyn“ ist nichts für Happy-End-Fetischisten, die Geschichte zerrinnt einem wohlig zwischen den Fingern. Das kennt man so ähnlich von Paul Auster, und wer mit dessen Erzählweise zurechtkommt, hat zu „Mr. Gwyn“ leichteren Zugang. Baricco lässt seine Figuren dieses Mal in London agieren, in einer vertrauten Gesellschaft, doch garniert er die Begebenheiten mit einer sprachlich entzückenden poetischen Philosophie. Es ist ein Fest, dieses Buch zu lesen.
Verglichen mit früheren Büchern, überrascht „Mr. Gwyn“ auf der sprachlichen Ebene: Die Geschichte findet in einer beinahe banalen Gegenwart statt und Baricco bildet sie auch genau so ab; Autoren haben Verleger und Agenten, jene haben Assistentinnen, und wenn sie sich unterhalten, reden sie wie das gewöhnliche Volk. Nur Baricco selbst nicht, der Kontrast sitzt beim Erzähler: Dessen Bewertungen und Betrachtungen sind ganz im vertrauten Stil des Italieners gehalten. Wer in diesem Buch so vor sich hin sinniert, philosophiert auf poetische Art. Von unzähligen Sätzen in diesem Buch ist man mindestens überrascht, meistens hingerissen, oftmals ekstatisch verzückt. Die Kunst Bariccos besteht darin, diese Sätze zwar auch als alleinstehendes Zitat wirkungsvoll oder bildhaft zu gestalten, doch ihnen gleichzeitig im Rahmen der Geschichte eine Bedeutung zu geben. Ein Beispiel: „Sie bewegte sich, als würde sie andauernd Stücke von sich selbst einsammeln, die nicht dafür gedacht waren, zusammenzubleiben. Ihr Körper schien das Ergebnis einer Willensanstrengung zu sein.“
Die Titelfigur ist ein Schriftsteller, der für drei Bücher und seine Zeitungsartikel berühmt ist. Eines Tages beschließt er, mit dem Romaneschreiben aufzuhören und Kopist zu werden. Das gestaltet er, indem er geschriebene Porträts anfertigt: Seine Modelle müssen dafür einen Monat lang nackt in seinem Atelier verweilen, bis die letzte handgefertigte Glühlampe eines alten Handwerkers verglüht, und Gwyn lässt ihnen dann ihr Porträt zukommen. Den Anfang macht er mit der Agenturassistentin Rebecca, die er hernach für seine Arbeit engagiert – und auf die nach einer guten Hälfte der Geschichte der Fokus liegt, da Gwyn selbst nach einigen angefertigten Porträts plötzlich verschwindet. Rebecca kommt bald hinter einige Geheimnisse, die die philosophische Tiefe der Erzählweise aufgreifen, die Geschichte aber nicht vordergründig zu einem Abschluss führen. Großartig.
In der deutschen Ausgabe ist dem eigentlichen Buch das Buch im Buch angefügt, „Dreimal im Morgengrauen“, das in der Geschichte „Mr. Gwyn“ eine wichtige Rolle spielt und das Baricco in Italien dem Roman separat nachschob (und ihm damit den schönen Status des MacGuffin raubte). Man sollte zwischen dem letzten Satz von „Mr. Gwyn“ und der neuen Geschichte eine kleine Pause machen, um die Geschehnisse sacken zu lassen. Zudem ist „Dreimal im Morgengrauen“ sprachlich, formal und inhaltlich ganz anders, nüchterner, vulgärer, und gleichzeitig vertraut überraschend in Philosophie und Konklusio.
„Mr. Gwyn“ ist ein Lesefest. Das Buch saugt sich von selbst in Herz und Hirn, genau wie die anderen Bücher Bariccos. Man wundert sich, wie wenig zu geschehen scheint und wie voll und detailreich die Geschichte dennoch ist. Wirkungsvoll auf allen Ebenen. Fast jeder Satz ein Orgasmus.