Von Matthias Bosenick (28.01.2017)
Jetzt also doch noch: Das zweite Buch von Sibylle Schreiber, in dem sie wieder schwarze Kurzgeschichten sammelt. Man braucht einiges an Hartgesottenheit, um jeweils gegen Ende der Geschichten nicht durchzudrehen: Die meisten Texte beginnen nämlich in einem vertrauten Setting, kippen dann aber kurz vor Schluss in etwas teilweise Abscheuliches. Diese Abscheulichkeiten offenbaren dabei weniger die schwarze Seele der Autorin, sondern vielmehr die Abgründe der Gesellschaft, die Schreiber beschreibt. Sprachlich und inhaltlich wiegt Schreiber den Leser in Sicherheit und schlägt dann erbarmungslos in die Magengrube. Hier fließt – wie auf dem Cover – Blut aus dem Liebesbrief.
Bisweilen ist man von Schreibers Kopfinhalt echt geschockt. Da beginnt etwas wie eine lediglich aus dem Ruder gelaufene Liebesgeschichte und endet dann als komplett andere Beziehungskonstellation (das sei jetzt mal alles nicht gespoilert). Da beginnt etwas wie eine klassische Urlaubsromanze und verläuft dann auf eine mörderische Weise im Sande. Da kommt ein Soldat aus dem Kriegseinsatz zurück und sieht sich von einer simplen Etüdenmelodie getriggert. Da fließt Blut aus vielen Geschichten, der Tod ist ein ständiger Teilnehmer. Und er ist nicht zimperlich. Parteiisch schon mal gar nicht. Wie er wechselt auch die Autorin gelegentlich unerwartet die Perspektive und tauscht Positiv gegen Negativ, Gewinner gegen Verlierer, Täter gegen Opfer aus.
Die große Kunst ist hier, dass fast alle Geschichten im Alltag beginnen, in einem Alltag, der den meisten Lesern vertraut sein dürfte. Ebenso trügerisch alltäglich ist die Sprache, die Schreiber verwendet; sie ist vertraut, heimelig, sympathisch, detailgetreu. Schreiber bezieht popkulturelle Details in die Beschreibungen ein und wiegt den Leser in einer Sicherheit, die ihm jedoch alsbald abhanden kommt. Nicht immer freut man sich mit dem Ausgang, Schreiber ist keine simple Racheautorin. Meistens erstreckt sich eine gewisse Genugtuung darin, dass es jemanden gibt, der solch schwere Themen überhaupt aufgreift, sie öffentlich macht und damit ankreidet. Wie in der Satire, nur ohne lustig.
À propos, in einem Punkt hat Schreiber selbst Recht: Humoristische Texte liegen ihr nicht so sehr. Es gibt zwei Beispiele dafür in diesem Buch, jeweils in der ihr üblichen Schwärze dargeboten, doch nimmt man ihr das Lustige nicht so recht ab. Ihre eigene kritische Sicht auf ihre Humorfähigkeit erfährt man aus den Einleitungen, die sie (fast) jedem Text voranstellt; da erläutert sie ihre Motivation oder den Hintergrund für die Entstehung mancher Geschichten.
Versammelt sind hier Kurzgeschichten, die Schreiber grob nach dem ersten Buch „Ich schaue Männern gern beim Schwimmen zu“ erstellte. Wie bei jenem erschließt sich der Titel auch bei „Ich wollte immer mal einen Liebesbrief schreiben…“ übrigens erst in Kombination mit dem Titelbild: Auf dem Debüt prangt unter der Schrift ein Krokodil, beim Vorliegenden quillt Blut aus dem Umschlag. Anders als bei vielen Lesebühnenautorenbüchern funktionieren Schreibers Texte auch ohne ihre Stimme, aber: mit ihrer Stimme noch viel besser. Schließlich ist Schreiber „Die Stimme“. Davon sollte man sich unbedingt überzeugen, sobald sie wieder irgendwo live in Erscheinung tritt.