Von Matthias Bosenick (15.11.2016)
Und dann gab’s da ja auch noch den Black Metal in der Biographie von Neige alias Stéphane Paut alias Alcest (alias weitere Projekte). Vom Puristen-Black-Metal wandte sich der Franzose ja schon als Teenager ab; heute spricht man bei seiner Musik von Post-Metal oder, sofern man Hipster ist, von Blackgaze. Heißt: Die Gitarren türmen sich zu, ähm, Türmen auf, Härte wird nicht mit Blastbeats oder Tempo erzeugt, der Pop gewinnt bisweilen Oberhand, der Sänger ist in sich gekehrt. Ist schön, aber man vermisst das vertraute Pfund im Sound. Immerhin ist „Kodama“ nicht mehr ganz so watteweich wie der Vorgänger „Shelter“.
Man wird halt erwachsen. Mit 31. Da lässt man nicht mehr so sehr die Sau raus, wenn man sie schon ein paar Jahre lang durchs Dorf getrieben hat. Mal zur Ruhe kommen, Luft holen, das Tempo drosseln, den Burn-Out vermeiden. Oder sich drin wälzen, wer weiß, was da letztlich wirklich Grundlage für die Entschleunigung war. „Kodama“ nimmt gottlob wieder etwas Fahrt auf, und das ist gut so, ein weiteres „Shelter“ hätte man eh nur verschlafen.
Trotzdem gefällt Herrn Neige das Schleppende. Er streut das, was früher wohl Blast Beats gewesen wären, eher wie gelegentliche Trommelwirbel ein, aber immerhin überhaupt wieder. Auch schreit er hier mal wieder gegen seine Soundwände an, was zusammen überraschend schön klingt. Für Leute, die so etwas einigermaßen gewohnt sind, versteht sich. Oft ertönt ein Poprock, der seine Hymnenhaftigkeit unter anderem bei U2 abgeguckt hat. Was fabelhaft funktioniert, weil es bei Alcest weniger kitschig ist als bei den gegenwärtigen Popolympioniken. Die allgegenwärtigen Vergleiche mit Shoegazern wie My Bloody Valentine indes sind auch nicht von der Hand zu weisen: Man gerät oftmals in einen hypnotischen Rauschrausch. So richtig in Lobeshymnen mag man über dieses Album jedoch nicht verfallen. Die Musik ist hervorragend, aber die Songs sind etwas beliebig.
„Kodama“ gibt es, ebenso wie schon „Shelter“, auch als siebenzölliges Buch mit einer Bonus-CD, die einen sechsminütigen Mehrwert birgt, was eine Gesamtlänge von gut 48 Minuten für das ganze Album macht. Aber Qualität lässt sich ja nicht allein an Quantität festmachen. Richtig festmachen kann man die beiden CDs in dem Büchlein übrigens auch nicht, da sie nur lose in einem knickanfälligen Cut-Out klemmen.
Falls einem Alcest nicht ausreichen, kann man sich ja die anderen Projekte von Neige mal zu Gemüte führen, allen voran Lantlôs und das beendete Amesoeurs. Nicht wundern hingegen sollte man sich über seine Teilnahme am Demo „Aryan Supremacy“ der später in Peste Noire umbenannten Dor Daedeloth, die auch nach dem Namenswechsel noch von sich sagen, ihre Musik sei nationalsatanistischer Black Metal. Davon hat Neige sich zum Glück distanziert – zudem war er damals noch fast ein Kind, gerade 15 Jahre alt. Trotzdem blieb er dieser abstoßenden Combo acht Jahre lang treu und gründete sogar mit seinen damaligen Mitmusikern das Project Alcest. Sein Nachfolger bei Peste Noire, Winterhalter, ist außerdem aktuelles Alcest-Mtglied. Einfach gar nicht ignorieren?
Der Titel „Kodama“ übrigens ist inspiriert von dem Film „Prinzessin Mononoke“ und heißt wahlweise „Baumgeist“ oder „Echo“. Passt beides zum Sound. Ein schönes Album, aber kein umwerfendes. Man sollte sich rückwärts durch das Oeuvre hören, dann wird’s besser. Zeitlich!