Von Matthias Bosenick (09.11.2016) / Auch veröffentlicht auf Kult-Tour Der Stadtblog
Filmfest!!! Der einzige Grund, sich auf den November zu freuen. In der Reihe „Neues Deutsches Kino“ läuft „Aloys“ aus Frankreich und der Schweiz, weil die Sprache zumindest an den Reihentitel angelehnt ist. Mit Titelfigur Aloys mäandert der Film durch diverse Genres, je nach Zustand dieser Person: Familiendrama, Detektivfilm, Psychogramm, Horror, Fantasy, Liebesgeschichte; alles indes nicht dem Genre gemäß, sondern sorgsam um die Figur herumdrapiert. Und in Motiven dargeboten, die der klassischen Bildkomposition folgen und damit bewundernswert ästhetisch sind. Für den umfassenden Genuss ist es indes unerlässlich, dass man sich auch auf Filme ohne galoppierendes Tempo einlassen kann. Dann hat man seine Freude.
Dem Horrorfilm entlehnt sind die unterschwelligen Brummgeräusche und Soundscapes, die sich durch diesem Film ziehen und permanent Schreckliches evozieren. Nicht so heftig wie bei David Lynch, aber doch ungewöhnlich für einen Film mit einer Geschichte wie dieser. Die ist nämlich nicht so geradlinig, trotz des bekannten Sujets: Aloys lebt kein eigenes Leben und lässt sich von einem weiblichen Eindringling aus der Reserve locken. Die Etappen dieser Entwicklung überraschen: Zunächst sieht man den stoisch-stumpfen Mann angesichts der Trauer um seinen einst dominanten, nun toten Vater ruppig mit seiner Umwelt umgehen und sich dann in seine Arbeit hineinsteigern. Isoliert observiert Aloys andere Menschen und montiert seine Beobachtungen, auch solche persönlicher Natur, zu assoziativen Filmen, die er sich abends zu Hause ansieht. Als er einen verstörenden Anruf von einer Frau bekommt, die ihn einiger Videos beraubte, schaltet der Film in eine Art investigatives Detektivkino um: Aloys analysiert den Anrufmitschnitt und versucht, hinter die Identität der Anruferin zu kommen. Sie spielt Katz und Maus mit ihm, bis zu ihrem missglückten Suizidversuch. Daraufhin treten sie erneut in Kontakt, und sie versucht, seine Fantasie zu wecken. Als ihr das endlich mühsam gelingt, steht Aloys vor der nächsten Herausforderung: Erst hat er nichts und dann Fantasie, und dann soll die auch noch Realität werden. Er muss sich nun folgenschwer entscheiden.
Mit dem Verlauf der Geschichte ändert Langfilmregieneuling Tobias Nölle auch seine Filmmethode: Zunächst sind die Bilder karg, später durchsetzt er das Erlebte mit haufenweise Symbolbildern und – im übertragenen Sinne – Spukdarstellungen. Auch zieht er das Schnitttempo an; Aloys entwickelt sich auf vielen Ebenen, auch als Charakter. Sofern man des Schwyzerdütschen und Wienerischen (Aloys wanderte aus) mächtig ist, hat man auch viel Freude an den Dialogen. „Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man sich das Leben nehmen will“, sagt Aloys seiner Fantasiefrau Vera. Sie antwortet: „Du hast nicht mal ein Leben, das du dir nehmen könntest.“ Den schlüssigen Grund dafür gibt Aloys zurück: Im Leben gelte es – das habe er bei seinen Observierungen gelernt –, sich auf Partys gegen seine Einsamkeit zu vergnügen, um danach nur noch einsamer zu sein; also verzichte er lieber gleich auf die Party.
In Sachen Bildgestaltung hat Nölle die Helden der Filmgeschichte ausreichend studiert, um hier einen mehr als nur ansehnlichen Film vorzulegen: Er lässt auf die Story nicht einfach nur draufhalten, das ist hier nicht der TV-Film im Abendprogramm. Allein das erläutert schon den Unterschied zwischen Kino und Fernsehen. Zudem unterwandert die Geschichte permanent die Erwartungen, weil sie ständig in die nächste Richtung kippt, mit der man einfach nicht rechnen kann. Diese Ungewissheit schließt auch mit ein, dass man nie weiß, wann sich welcher Charakterzug Aloys‘ Bahn bricht und ob das Autoaggressive, Selbstverleugnende die Oberhand in Aloys‘ Innerem hat. Ein angemessener persönlicher Auftakt fürs 30. Filmfest!