Von Matthias Bosenick (19.07.2016)
Fremdschäm – Der Film: Wären da nicht die unerschütterlich reagierenden anderen Figuren, man versänke andauernd im Erdreich vor lauter Schamgefühl den beiden Hauptcharakteren gegenüber. Die Unternehmensberaterin Ines und ihr Vater Winfried bringen in Bukarest Manager und Jetset durcheinander, und das alles nur, weil sie sich von einader und vom eigenen Leben entfremdet haben. Regisseurin Maren Ade schont niemanden und hält bis zum Exitus drauf. So kommen locker zweieinhalb Stunden Film zusammen, in denen man sich schon bisweilen fragt, ob eine Stunde weniger die Wucht aus dem Ablauf genommen hätte. Denn der Film ist so hyperrealistisch, dass der Kontrast zu den absurden Sequenzen dadurch erst so bewusst wird.
Wilfried ist ein Scherzbold, und als solchen führt Ade ihn gleich in den Film ein: Er veräppelt einen Paketboten mit einem höchst verstörenden Streich. Seiner beruflich erfolgreichen Tochter ist er nur peinlich, er hingegen nimmt eine private Leere in ihr wahr. Überraschend besucht er sie in Bukarest, verbringt einige verkrampfte Stunden mit ihr und verschwindet – vermeintlich. Denn er kehrt mit Plastikgebiss und Strubbelperücke als Managercoach Toni Erdmann zurück, befremdet Ines‘ Umfeld und gibt Ines die Möglichkeit, sich ihm als Quasi-Fremde neu zu nähern. Beider Verhalten färbt auf den anderen ab, und doch sind die jeweiligen Umwälzungen nicht wesensverändernd.
Der Hyperrealismus ist die große Trumpfkarte in diesem Film. Vor diesem Hintergrund wirken die Absurditäten noch viel eindrucksvoller: Reibekäse statt Koks, Ion Tiriacs Schildkröte, bulgarisches Monster auf der unbeabsichtigten Nacktparty, Eierfärben mit dem Botschafter. Doch weil die Betroffenen diese Absurditäten obschon befremdet, so aber doch bereitwillig mit- oder überspielen, endet genau dort das Fremdschämgefühl.
Indes bleiben einige Unwägbarkeiten bestehen. Die Nicht-Sex-Szene erfüllt zwar den Tatbestand des Absurden, passt aber weder in Ines‘ Charakter noch in den Film so richtig hinein. So dominant Ines geschäftlich ist, so schwach ist sie doch im Privaten, und einen Untergebenen sexuell so kleinzuhalten, geschieht zwar genau auf der Grenze zwischen Business und Leben, zeigt aber eine Ines, die zum Rest ihres Charakters nicht im Einklang steht. Auch das Geburtstagsbrunch, das sie angegnatzt nackt eröffnet, überzeugt nicht: Einerseits scheint Ines jeden Moment psychisch zusammenzubrechen und ihre Nacktheit wie psychotisch neben sich auszuleben, andererseits hat dieses Verhalten keinen weiteren Einfluss auf ihr weiteres Vorgehen. Klar ist, dass der Auftritt des Monsters in keinem größeren Kontrast zum Geschehen stehen könnte. Doch ändert Ines letztlich lediglich ihren Arbeitgeber, nicht ihr Leben. Da hilft es auch nichts, dass sie sich mal das Kunststoffgebiss ein- und einen albernen Hut aufsetzt. Natürlich rückte sie endlich ihrem Vater näher, und das sollte auch geschehen. Die Schlussszene ist da konsequent.
Was hier absolut überzeugt, sind die Darsteller und die Dialoge. Sandra Hüller ist eine verknöcherte, depressive Managertante ohne Leben, Peter Simonischek ein verzottelter, gebeugter alter Mann mit Schalk im Nacken und versteckten Fähigkeiten. Auch die Managertypen agieren überzeugend, anders etwa als in „Outside The Box“, der ein ähnliches Biotop auf den Kopf stellt. Doch wo jener systematisch menschenverachtende Realitäten benennt und bloßstellt, konterkariert „Toni Erdmann“ diese Realitäten mit einem verqueren Gegenentwurf, garniert mit Realkritik (Sexismus, Armut).
Die Länge aber ist diskutabel. Recht häufig nun ertappt man sich dabei, einen dargestellten Gedanken erfasst zu haben und für den nächsten Schritt bereit zu sein. Doch Ade hält drauf. Man verfolgt ganze Consultingmeetings, die keinerlei Inhalt haben, was man schon nach einem Bruchteil der Zeit erfasst hat. Oft verharrt die Kamera auf einer Einstellung, die jedoch nicht immer die skandinavische Kargheit vermittelt, sondern eben schlichtweg irgendein Bild zeigt. Trotzdem, der dieses Drama durchziehende Humor ist großartig, teilweise völlig aus dem Nichts kommend, und die ganze Sache ist kaum vorhersehbar. Damit gelingt „Toni Erdmann“ etwas, das heutzutage kaum noch Geschichten mitbringen: Unerwartetes bringen und doch (weitestgehend) nachvollziehbar bleiben. Und wer zum Abspann „Plainsong“ von The Cure auspackt, macht sowieso etwas richtig.