Von Matthias Bosenick (19.06.2016)
Nicht Totengräber, sondern Schatzsucher sind die Leute von Sireena: Hiermit veröffentlichen sie den Schwanengesang des schwedischen Progkonglomerats Tribute (ungeschickter Name aus der Prä-Google-Zeit). Interessanterweise klingen viele zeitgenössische Progalben so ähnlich, „Terra Incognita“ (nicht zu verwechseln mit dem grandiosen Debüt von Gojira) könnte genau so auch von heute sein. Das sagt einerseits etwas über das vermeintlich Neue im Biz dieser Tage aus und andererseits über die offenbar nicht flächendeckend ausgefallene Berücksichtigung der Band im weltweiten Progkosmos. Zumindest mir sind sie vorher nicht untergekommen. „Terra Incognita“ ist so abwechslungsreich, dass im Wortsinne für fast jeden etwas Ansprechendes dabei ist – aber auch etwas, das er vielleicht nicht so mag.
Von „Rock“ kann hier eigentlich keine dauerhafte Rede sein, dafür ist das Album nicht kantig genug. Von „Pop“ allerdings auch nicht, dafür ist es viel zu experimentell. Die kolportierten Vergleiche zu Mike Oldfield treffen nur stellenweise zu, der war zu seinen guten Zeiten auf etwas anderen Pfaden unterwegs, weitaus in sich gekehrter als Tribute. Die gehen in die Breite, um den Globus herum, integrieren schwedische Folklore ebenso wie indianische Gesänge. Und ein Orchester. Und überhaupt eine Vielzahl an Instrumenten. Und mindestens einen Chor. Und und und. Spannenderweise klingt alles in Reihe etwas überkandidelt, aber dann fällt einem auf, dass die Opulenz eben „nur“ in Reihe stattfindet und nicht gleichzeitig, was sie also wesentlich leichter goutierbar macht.
Streckenweise ist das aber schon ganz schön verwegen, was Tribute hier kredenzen. Der Auftakt sollte schnellstens überskippt werden: „A Brand New Day“ klingt wie der schlimmste Hans-Zimmer-Kitsch eines Romcomhollywoodfilms. So süßlich und bombastisch bleibt es gottlob nicht. „Poem för vandrare“ fasziniert zunächst mit sanftem Frauengesang auf Schwedisch zur akustischen Gitarre, mit leichten Anleihen an die Kollegen von ABBA, wenn sie mal von Poppfaden abwichen und experimenteller wurden. Ja, sobald dann Bass und reduzierte E-Gitarre einsetzen, bekommt das Stück sehr wohl einen Anstrich von Mike Oldfield (dabei ist Anita Hegerland Norwegerin). Bald verliert sich die Band im eskapistischen Gegniedel, bis zur Rückkehr zur Ausgangsbesinnlichkeit. „Didn’t You Notice“ klopft an Stadiontüren, mit zu jener Zeit gängigem Rockrhythmus, Keyboardfanfaren und Wohlfühlharmonien. Nur die Querflöte torpediert diesen Eindruck etwas. Im Verlauf belegt die Band, dass sie auch dazu in der Lage ist, mit Rockinstrumentarium verschachtelte Klassik nachzuempfinden.
„Where There Is A Shadow There Is A Light“ startet als Pianoballade, einmal mehr begleitet von weiblicher Stimme. Auch dieses Stück fließt in Mike-Oldfield-Nähe, aber wie fast jeder Track auf diesem Album behält die Band keine Elemente dauerhaft bei; das Lied ist also in sich abwechslungsreicher als ein Oldfield-Song. Die Atmosphären bilden eine schlüssige Reihe und nehmen den Hörer mit, denn ohne eine gewisse Aufmerksamkeit entgeht einem einiges hier. Mit besinnlicher Akustikgitarre startet „Winds Of Autumn“, bald begleitet von Harfe und Geige. Hier sind es die beinahe mittelalterlichen Melodien und die im Zuwachs der Instrumente (zum Beispiel Flöte) entstehende Euphorie, die das Besondere ausmachen. Ein schöner Abschluss für Seite Eins, betrachtet man das Album in seiner LP-Anordnung.
Denn es folgt wie eine progrocktypische Seite Zwei der fast 22-minütige Titeltrack. Und da packen Tribute alles hinein, was noch im Studio herumlag. Deutschsprachige Nachrichtenschnipsel, ein komplettes Orchester, ein Kammerorchester, ein von Oboen begleiteter Indianerstamm, orientalische Melodien, Urwaldatmosphären, Proberaumaufnahmen einer Mike-Oldfield-Tribute-Band (hups! Doch daher der Name?), Pianoexperimente, Angelo-Badalamenti-Fingerschnipsen (das der zeitgleich bei „Twin Peaks“ etablierte), Tubular Bells, ein Kitschfilmsoundtrack, ein russischer Männerchor, ein Military-Schlagzeug, ein trauriger Mariachi, eine jammende Progrockband, ein Kirchenchor, eine E-Drum und ein sattes Maß an Opulenz für den Ausklang. Völlig überkandidelt, das Ding. Also typisch für diese Sorte Progmusik und dabei qualitativ nicht zu beanstanden.
Mit „Terra Incognita“ vollendet Sireena nun die Rereleasegeschichte der Band, von der es nämlich nur drei Studio-Alben und ein Live-Album in sechs Jahren gab. Sicherlich wird „Terra Incognita“ kaum Leute ansprechen, die mit progressiver Musik nichts anfangen können; die Wiederveröffentlichung richtet sich definitiv an Kenner und Genrehörer. Da es seit einigen Jahren einen wachsenden Markt auf dem Feld gibt, gibt es für dieses Rerelease eines versierten Albums eine klare Berechtigung. Und ABBA könnte ich auch mal wieder auflegen.