Von Matthias Bosenick (03.02.2016)
Ist das nicht gruftig? Goethes Erben sind nicht tot, sie riechen nicht mal komisch. Oswald Henke erweckte seine alte Band von den Toten, um mit ihr im Oktober 2015 in Bayreuth ein Musiktheaterstück über das Sterben auf die Bühne zu bringen. Nun ist ja kein Konzert der Erben jemals frei von Theater gewesen und Henke somit auch hier in seinem natürlichen Element. Für die zwei Aufführungen, die diesem Mitschnitt auf DVD zugrunde liegen, fuhr der Mann alles auf, was ihm an Opulenz einfiel, in Sachen Musikern, Tänzern, Arrangeuren und Bühnendekorateuren. Unfassbar aufwändig. Das ergibt fast drei Stunden schwere Kost, die nicht zwingend eine Geschichte erzählt, aber dramatische Inhalte transportiert. Und optisch durch die Monochromie fokussiert ist: Das Sterben ist ästhetisch grau. Ein Teil der Musikstücke lässt sich auch fein ohne die Bilder zu Gemüte führen, dafür gibt es ein Destillat des Stückes auf CD. Einziger Wermutstropfen: Die gottlob nur selten eingesetzte Kraushoferin ist nicht mal ansatzweise ein Ersatz für Mindy Kumbalek.
Standen bei Henke anfangs (also vor 26 Jahren) noch stark die Inhalte im Vordergrund, arbeitete er zusehends mit mehr und mit versierteren Musikern zusammen, was der Musik nicht nur der Goethes Erben, sondern auch der anderen Projekte, wie zuletzt der nach ihm benannten Band Henke, eine viel größere Relevanz verlieh. Die einst zu Piano gesprochenen Gedichte wurden zu ansprechend ausformulierten Songs. Diese Linie setzt sich auch auf „Menschenstille“ fort; auch hier reicht die musikalische Bandbreite von der Pianoballade bis zum opulenten Popsong, über die Stationen Rock, Kammermusik und Industrial; „Hintergrundrauschen“ etwa klingt wie ein auf Henkes Lyrik aufgepepptes „One Hundred Years“ von The Cure. Dafür gibt es dann eben die CD: Die kann man sich als mit 80 Minuten vielleicht überlanges Goethes-Erben-Album der Gegenwart anhören. Den Livesound muss man akzeptieren, die Stücke sind eben nicht wie im Studio formvollendet ausproduziert; schlechter macht es sie nicht. Man muss jedoch damit zurechtkommen, dass Mindy Kumbalek bei dieser Inkarnation der Erben nicht mehr mit im Boot sein will und dass Sonja Kraushofer von L’Âme Immortelle und Persephone den gesanglichen und theatralischen Herausforderungen Henkes nicht gewachsen ist. Die anderen involvierten Musiker arbeiten bereits unterschiedlich lang mit Henke zusammen; Cellistin Susanne Reinhardt ist seit 1995 dabei, Pianist Markus Köstner teilt seit 1996 Projekte mit Henke, darunter die Erben und Artwork, Tenor Tobias Schäfer war auch beim Projekt Henke schon dabei, und Multiinstrumentalist Martin Höfert kam über diverse Grunftibandstationen wie Janus, ASP oder Sopor Aeternus mit der Kraushoferin zu Henke. Die Band ist hervorragend, an der Musik ist nichts auszusetzen; man muss aber auch Lust darauf haben, sich mal stimmungsmäßig herunterziehen zu lassen – fröhlich geht anders und bei den Erben eigentlich schon mal gar nicht. Nicht zuletzt Henkes stets theatralischer Vortragsstil ist mindestens eigenwillig, die Inhalte sind zumeist deprimierend.
Kein Wunder, geht es bei „Menschenstille“ doch um das weite Feld des Todes sowie nicht nur im Umkehrschluss um den Wert, den das Leben hat. Depressionen, Suizid, Mord, Krieg stehen auf der einen Seite, nicht ausgelebte Pläne und mehr oder weniger unfreiwilliger Tod durch externe Umstände auf der anderen. Das Stück wiegt die Umstände gegeneinander ab und ist sowohl ein Plädoyer dafür, das Leben zu leben, als auch dafür, es aus freien Stücken zu beenden, wenn man dies so will. Bei genau jenem Thema ist Henke überraschend ambivalent: Der Suizid kann eine Befreiung sein, wenn die Umstände keinen anderen Weg zulassen, ist aber auch ein Mahnmal dafür, wie ausweglos Umstände für manche Menschen sein können, obwohl sie es nicht immer auch sein müssten. Interessanterweise transportiert Henke mit seinen Texten einen Kommentar zur gegenwärtigen Lage in Deutschland, Europa und der Welt; er spricht sich etwa gegen Ausgrenzung und andere Folgen von Kriegen aus und dafür, Fremde nicht als solche zu behandeln.
Für dieses Stück wählte Henke vorzügliche Mitstreiter aus. Seine Schauspieler können elegant tanzen, harmonisch singen und ausdrucksvoll rezitieren. Sie und die Musiker ließ Henke in staubig-mehliges Grau tünchen, sowohl in der Kleidung als auch in der Schminke. Obwohl sie natürlich aussehen wie Zombies, gibt der Inhalt diese Analogie nicht her: Es sind vielmehr Geister, die mahnend an die Lebenden herantreten. Sie stellen Verstorbene verschiedener Epochen dar, die im Kapitel „Opfermonologe“ ihre Geschichten erzählen; das geht unter die Haut, man sieht etwa einen Soldaten mit Pickelhaube, einen im KZ umgekommenen Juden, eine durch Folter Hingerichtete. Die Kostüme dazu ließ Henke sich von der Künstlerin Carsta Köhler gestalten. Für die Bühnendekoration gewann er zudem den Bildhauer Remo Sorge, dessen Holzskulpturen zwischen den Erben-typischen Kerzenleuchtern stehen. Typisch ist beispielsweise auch die rote Puppe vom „Nichts bleibt, wie es war“-Cover, die ins Geschehen Eingang findet.
Inmitten dieses Reigens agiert nun der Maestro selbst. So kennt man ihn: Seine Performance reißt die Aufmerksamkeit auf sich, er steht ganz klar im Zentrum, so viel Raum er den anderen auch lässt. Henke hat das Drama für sich gepachtet, den Schmerz, die Nachdrücklichkeit – die Hauptrolle. Bisweilen wirkt es befremdlich, dass er seine Texte aus einem Hefter oder einem Buch abliest; diese Gegenstände wirken dann nicht wie geschickt eingesetzte Requisiten, weil sie inhaltlich nicht passen. Aber nun, sein Buch „Narbenverse“, auf dem dieses Stück basiert, ist vermutlich zu üppig, um es auswendig zu können. Aber hey, die Erben sind wieder da, nicht nur auf Split-EPs mit der Möchtegern-Anne-Clark Sara Noxx („Kein Weg zurück“ und „Sie wusste mehr/Falling“ von 2014 und 2015). Man muss sich auch wieder krass auf sie einlassen können, leicht hat es Henke seinem Publikum nie gemacht. Diese Kontinuität kann man Henke nur zugute halten. „Menschenstille“ ist ein großes Werk, in jeder Hinsicht.